Fremde Augen

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Als mich mein Handywecker am nächsten Morgen unsanft aus dem Land der Träume holte, hatte ich nur ein paar Stunden geschlafen. Auf dem Sofa eingerollt, hatte ich noch lange über mich und meine Mutter nachgedacht. Ich konnte mir nicht erklären, warum sie mich so vehement von meiner Vergangenheit fernhalten wollte. Ich hatte das Gefühl, dass sie mir etwas verheimlichte. Und je mehr ich darüber nachdachte, desto größer und beängstigender wurde es, nicht zu wissen, was genau sie vor mir geheim hielt.

Ich kämpfte mich von der Decke frei und schwang meine Beine über den Rand meiner Schlafstätte. Gähnend streckte ich mich und stand auf. Ich wusste das Lukas und Thomas schon wieder aus dem Haus waren. Ian hörte ich in der Küche leise vor sich hin fluchen.

"Ian?", fragte ich, als ich um die Ecke bog und mich an den Küchentisch setzte.

Angesprochener stand am Herd und kämpfte mit etwas, das meiner Meinung nach Pancakes darstellen sollten.

"Guten Morgen", sagte ich vorsichtig und versuchte einen Blick auf das Schlachtfeld neben dem Herd zu werfen.

Ian war definitiv nicht der Typ der gerne in der Küche stand und kochte.

"Ja ja", brummte er zurück und ließ die Pfanne in die Spüle fallen.

Den verkümmerten Inhalt schaufelte er auf zwei Teller und setzte einen unwirsch vor mir ab. Klirrend kam das Porzellan vor mir auf dem Tisch zum stehen, die Gabel folgte eine Sekunde später.

"Du hast mir Pancakes gemacht?", fragte ich und versuchte ein überzeugendes Lächeln.

Ians Laune war miserabel, ich wollte nicht, das er sie an mir ausließ.

"Ich dachte du würdest dich freuen. Kaffee?"

Er drehte mir den Rücken zu und ich nahm die Gabel in die Hand und musterte den halb fertigen Teig auf meinem Teller.

"Das ist toll, wirklich. Ich hätte gerne Kaffee."

Mit zusammengezogenen Augenbrauen stocherte ich in dem Pancake herum. Mühsam trennte ich ein Stück ab und schob es mir in den Mund. Während ich kaute fing Ian mir an von seinem heutigen Tagesplan zu erzählen. Ich freute mich, das seine Miene sich aufhellte, als er von der bevorstehenden Bandprobe berichtete.

Die Band war für Ian alles.
Seine Liebe für die Musik überraschte mich immer wieder aufs Neue. Obwohl er die Frauen oft wechselte und nie lange bei einer blieb, war es für mich so unglaublich zu sehen, dass er sein Herz so sehr an etwas hängen konnte, an die Musik. Die Leidenschaft mit der er sich der Band widmete, spürte man in jedem Akkord den er spielte. Und ich versuchte dieser Leidenschaft mit meinen Texten gerecht zu werden, indem ich nicht nur meine eigenen Gefühle und Erlebnisse darin verarbeitete, sondern auch eine Menge an Herzblut hineinsteckte. Ich hoffte es genügte Ian.

Nachdem wir zusammen gegessen hatten, verabschiedete ich mich von Ian und Veronica, die mittlerweile aufgestanden war, und verließ die Wohnung.

Ich reihte mich hinter einer Gruppe Männer mit Aktentaschen ein und lief den gesamten Weg zur U-Bahn hinter ihnen her, das Gesicht tief in der Jacke verborgen. Der Wind pfiff kalt zwischen den Häuserblocks, der Himmel war dunkel und ich war mir sicher, dass es bald wieder regnen würde. Obwohl wir Juni hatten, war es noch immer bitterkalt, die Temperaturen fielen manchmal für Tage ungebremst ins Bodenlose und die meisten rechneten mit einem ziemlich milden Sommer.

Ich ließ mich von der Masse in die Wagons treiben und blieb mit den Händen in den Taschen an der Tür stehen. Ich betrachtete wie die Landschaft Brooklyns wie im Traum an mir vorbeizog, wie neue Personen zu oder ausstiegen. Als ich an meiner Station ausstieg lief ich durch die Hauptverkehrszonen und kam gegen Mittag an der Wohnung meiner Mutter an.
Es war ein typisches Hochhaus etwas außerhalb.

Ich sah an der grauen Fassade hoch, vorbei an den verspiegelten Fenstern. Schnell kramte ich den Schlüssel hervor und betrat das Gebäude. Ich ließ den Fahrstuhl links liegen und begann die Treppen hinauf zu steigen. Schlurfend näherte ich mich dem fünften Stock. Ich verließ das Treppenhaus und bog nach rechts ab.

Auf dem Weg zu der Wohnung kamen mir ein junger Vater mit zwei kleinen Töchtern entgegen. Sein Blick glitt musternd über meine zerwühlten Haare, meinen geröteten Wangen und meiner laufenden Nase hinunter zu meinen Schuhen, die dunkle Spuren auf dem Boden hinterließen. Schnell wandte ich den Blick ab und schloss die Tür mit der Nummer 67 auf. Die Wohnung war kalt und leer, die Wände waren schmucklos, nur die nötigsten Möbel waren vorhanden. Von dem Gehalt einer Krankenschwester den meine Mutter bezog, kamen wir gut zurecht, wir waren beide nicht der Typ der Luxus brauchte um glücklich zu sein.

Wir waren schon lange nicht mehr glücklich gewesen. Seid mein Vater sich umgebracht hatte war nichts mehr wie früher. Wir waren in eine kleine Wohnung gezogen. Ich hatte die Schule frühzeitig abgeschlossen, das College besucht, meinen Abschluss gemacht, während meine Mutter so viel gearbeitet hatte, dass sie beinahe einen Burnout erlitten hatte, nur um die Tatsache zu verdrängen, dass wir nur noch zu zweit waren. Von diesem Zeitpunkt an war alles schlimmer geworden.

Ich versuchte die Gedanken loszuwerden, schüttelte den Kopf und ging durch die Wohnung in mein Zimmer. Ich zog meinen Koffer unter dem Bett hervor und begann meinen Kleiderschrank auszuräumen. Ein paar Pullover, Hosen, das Nötigste um eine gewisse Zeit lang nicht nach hause kommen zu müssen. Auch nahm ich das Bild von meinem Schreibtisch, welches mich und meine Eltern im Central Park zeigte. An diesem Tag waren wir zusammen zum Picknick gewesen, das Wetter war wunderbar, meine Eltern waren verliebt wie ich sie schon lange nicht mehr gesehen hatte.

Ich zuckte zusammen, als das Telefon klingelte. Eigentlich wollte ich es ignorieren, weiter meine Sachen packen, doch das Schrillen aus dem Flur wollte nicht aufhören und schließlich nahm ich ab.

"Hale, wer ist da?", fragte ich, als ich bemerkte, das die Nummer unterdrückt war.

"Miss Elizabeth Hale?"

Die Stimme am anderen Ende der Leitung war eindeutlig männlich und mir auf den ersten Eindruck fremd.

"Ja, wer sind Sie?", fragte ich misstrauisch.

"Miss Hale, ich muss Sie in einer dringenden Angelegenheit sprechen."

Verwirrt zog ich die Augenbrauen zusammen.
Wer war dieser Mann? Und warum wollte er mich so dringend sprechen?

"Na gut", sagte ich nach einigem Zögern.

"Was wollen Sie?"

"Wir sollten das nicht am Telefon besprechen. Ich werde ein Treffen arrangieren, damit..."

"Jetzt hören Sie mal, Mister! Ich weiß weder wer Sie sind, noch was Sie von mir wollen. Ich werde mich unter keinen Umständen mit jemandem treffen, egal was für eine Angelegenheit das sein soll! Versuchen Sie Ihre Masche doch bei jemand anderem, vielleicht ist jemand so naiv und glaubt Ihnen ihre kleine Show...", knurrte ich und legte auf.

Zurück in meinem Zimmer schloss ich den Koffer, warf einen letzten Blick durch den Raum und machte mich auf den Weg zurück nach Brooklyn.

Bei dem Gedanken, dass ich am späten Nachmittag mit Veronica losziehen musste, war der fremde Anrufer schon längst vergessen.

Mir fiel nicht auf das ich verfolgt wurde, auf dem Weg zur WG, am Nachmittag in dem Einkaufszentrum, dass Veronica ausgesucht hatte. Selbst als ich am Abend wieder meinen Platz auf dem Sofa bezog, lagen mindestens drei Augenpaare auf meiner Person.

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Shattered MeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt