Kapitel 16
POV TIM
XVI
Hallende Schritte machten sich auf der anderen Seite der Tür breit und ich bildete mir für den Bruchteil einer Sekunde ein, seine Stimme hören zu können.
Das leise Klacken der Tür hallte in meinen Ohren nach. Und ich klammerte mich fest an jene Vision aus dem Fahrstuhl damals.Sicher sehe ich sein wunderschönes Gesicht gleich mit der, sich öffnenden Tür immer mehr Stück für Stück.
Doch das Gesicht, welches mich mit aufgerissenen, fragenden Augen anblickte war nicht jenes, welches ich über all die Jahre auswendig gelernt hatte. Es war nicht das Gesicht, welches ich mir in der Matratze neben mir und dort in ein Kissen gehüllt ersehnt hatte. Es war nicht Jan.
Eine Narbe zog sich auf der Nase, des Mannes, wie ein dünner Bach entlang. Sein schroffes, eckiges Gesicht war von einem dunklen Vollbart gezeichnet und die eisblauen Augen, mit welchen er mich stets eindringlich musterte, waren von runden Brillengläsern umzogen, welche unter einer wilden Haarmähne hervorlugten.
"Ist Jan da?", meine Stimme war belegt und wirkte brüchig.
Der vollbärtige Mann zeigte als Antwort auf das kleine Schild über der Klingel und meine Augen folgten ihm dahin.
Beim Lesen, der krakeligen Ziffern, wurde mein Herz plötzlich untragbar schwer.M. Castell
Stand auf dem Schild, welches den kleinen grünen Zettel mit der Aufschrift J. Zimmermann unter sich begaben hatte. Bei genauem Hinsehen sah ich eine grasgrüne Ecke darunter hervorlugen.
"Er wohnt nicht mehr hier. Wer sind Sie eigentlich, wenn ich fragen darf?", sein Blick löcherte mich durchdringlich.
Tränen pochten gegen meine Augen und ich versuchte sie samt des Kloßes in meinem Hals herunterzuschlucken.
"Ich bin Tim. Sein bester Freund.", die leise Stimme in meinem Kopf machte mich darauf aufmerksam, dass es spätestens jetzt an der Zeit war von dieser Freundschaft in der Vergangenheit zu sprechen, doch ich ignorierte sie so gut ich konnte, samt des Tennisball-großen Kloßes in meiner Kehle.
"Tim Lehmann?", ich nickte zögerlich. Nicht wissend, worauf "M. Castell", wie sein Klingelschild ihn mir vorgestellt hatte, hinauswollte.
"Gut, dass Sie da sind. Ich wollte die Dinger heute endlich wegschmeißen. Die Post geht mir damit schon aufn Sack.", mit diesen Worten verschwand er in der Wohnung und machte den Blick frei.
Eine brausende Welle erfasste mich, als ich in das dünne Gemäuer blickte, welches mich so oft von einem dunklen Traum in die heiße Nacht entführt hatte.
Ein Großteil Jans alter Möbel waren zu meiner Überraschung stets vorhanden und M. Castell hatte sich nicht die Mühe gemacht sie zu verschieben. Vorsichtig trat ich ein paar Schritte nach vorne und suchte mit meinem Blick die Wohnung ab. Wonach ich Ausschau hielt wusste ich selber nicht. Vermutlich nach Jan, denn das alles wirkte so surreal, dass es mir vorkam, er könne gleich um die Ecke biegen und mich verdutzt grinsend und eine Grimasse ziehend begrüßen. Sein Duft stand stets in Luft, wenn auch sehr verblasst und vermischt mit billigem Aftershave.
An den Wänden hingen Fotos und Poster, diese schiene als einziges darauf hinzuweisen, dass hier nun ein M. Castell eingezogen war.
"So, da bin ich wieder.", seine Stimme verlor sich in den dünnen Gemäuern. Ich schreckte leicht auf und blickte von einer Bildercollage auf, welche seinen USA-Urlaub, erkennbar an dem großen USA-Schriftzug auf der jeweiligen Flagge am Kopf der Pinnwand zeigte.
Seine eisblauen Augen musterten mich erneut und wirkten irgendwie leerer, als auf den Fotos an der Wand, welche ihn mit einer jungen Frau im Arm vor der Freiheitsstatur, in einem gemeinsamen Zelt auf dem Grand Canyon, küssend vor dem Hollywood-Schild oder mit einem riesigen Burger in einem Diner zeigten.
Ich sah an ihm herab.
Ein kleiner Berg an Briefumschlägen stapelte sich auf seinen Unterarmen ab.
"Die sind im Laufe der letzten Monate angekommen. Manche schien er wohl noch von hier aus geschrieben zu haben.", er inspizierte einen roten Umschlag. "Andere erst nach seinem Umzug."
Die aufkommenden Tränen wurden bei seinem letzten Wort schwer und hämmerten unbarmherzig gegen meine Augen. Umzug. Die dünne, in mir angestaute Hoffnung Jan würde noch immer hier wohnen und hätte in M. Castell nur einen Mitbewohner, oder einen Lebenspartner, hallte die leise Stimme in meinem Kopf in mir nach, gefunden, zerbrach vor meinen Augen in hundert kleine, tiefe Wunden ziehende Teile.
"Wissen Sie denn, wo er jetzt ist?", ich gab mir alle Mühe meiner Stimme einen ernsten Unterton zu verleihen.
"Nope. Die Briefe, welche er nach seinem Umzug angekommen sind waren alle ohne Absenderadresse. Zuerst war ich verwirrt und habe sie zum Postamt gebracht, doch die konnten mir auch nicht weiterhelfen. Ohne Absender ist es nun mal schwer rauszufinden, von wem die Dinger sind und schließlich stand meine Adresse drauf. Doch dass sie nicht an mich adressiert waren merkte ich als ich mal einen öffnete. Gelesen habe ich aber nicht weit. Kommen Sie mir also jetzt nicht mit Verletzung des Briefgeheimnisses oder so 'nem Dreck. Naja jedenfalls sind die wohl für Sie. Schließlich stand auf ein paar Tim Lehmann drauf.", er wedelte mit einem weißen Briefumschlag in der Luft, auf dem eben diese Worte geschrieben standen.
"Aber anscheinend war ihre Adresse in den früheren Briefen, denen er ihnen schrieb nicht mehr gültig, weshalb sie zu mir zurückkamen. Naja, so war das auf jeden Fall.", er drückte mir die Umschläge in die Hand.
"Glaube das waren alle. Vielleicht sind auch mal ein oder zwei im Müll gelandet aus versehen. Wusste schließlich nicht, wie lange ich die Dinger noch aufheben sollte und irgendwann gingen sie mir echt aufn Wecker.", ich nickte und überhörte seine forsche Anmerkung. M. Castell schien zu den Menschen zu gehören, welche in ihrer Post nur Werbeanzeigen und Rechnungen fanden und das zu einem brennenden Gespräch entfachen konnten, welches nur Abwechslung in der Wirtschaftskrise oder dem miesen Wetter fand, welches der Wetterdienst mal wieder völlig falsch gemeldet hatte.
"Danke.", mein Gegenüber zuckte mit den Schultern.
"Hätte sie sonst eh nur weggeschmissen, oder als Brennstoff genommen.", er kratzte sich an der vernarbten Nase.
"Wissen Sie denn sonst irgendetwas über Jan? Hat er ihnen etwas gesagt, als er auszog?"
M. Castell dachte scharf nach und es sah wie Schwerstarbeit aus. Dann schüttelte er den Kopf.
"Nope. Hab ihn ehrlich gesagt nur bei meinem Einzug kurz am Telefon gesprochen. Er sagte ich dürfe seine Möbel behalten, wenn ich wolle und das er mir die nicht in Rechnung stellen würde. Schien ganz nett zu sein der Kerl.", wieder nickte ich. "Wenn Sie sein bester Freund sind sollten Sie ihn sicher erreichen. Heutzutage hat ja jeder 'n Handy.", ich nickte erneut und verzichtete darauf ihm zu erzählen, dass ich das bereits mehre Male versucht hatte.
"Vielen Dank nochmal.", meine Stimme klang nun ebenso leer, wie die Augen meines Gegenübers aussahen.
"Keine Ursache. Machen Sie's gut.", die Tür fiel hallend ins Schloss.
Ich hatte gerade noch genug Kraft um mich an ihr hinabsinken zu lassen und laut auf zu schluchzen.
Den Tränen freien Lauf zu lassen.
Aus ganzer Seele zu schreien.
Doch ich tat es nicht.
Ich würde kämpfen.
Und so machte ich auf dem Absatz Kehrt und ließ die weiße Türe hinter mir im Treppenhaus verschwinden.
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Thunderstorm daydreams|Gewitter im Kopf
FanficAm Anfang erschuf Gott die Welt. Am zweiten Tage schöpfte er den Himmel, von dem Donner und Blitz in ohrenbetäubenden Lichtern auf unsere Erde hinabprasseln. Eines Tages fanden Donner und Blitz den Weg in meinem Kopf und ein riesiges Gewitter entsta...