Nachdem ich mich aufgefrischt hatte, schlich ich wieder nach unten. Unauffällig mischte ich mich unter die Gäste und schaute mich um. Unmengen an Gorillas mit ihren Frauen, einige sogar mit Kindern. Dann die Leute, die höher in der Rangordnung standen. Matteo gehörte meiner Einschätzung nach entweder zu diesen, oder war aus einem anderen Grund hoch angesehen. Sonst wären nicht so viele zu seiner Geburtstagsfeier gekommen.
Auf einmal bemerkte ich einen prüfenden Blick auf mir. Ich linste in die Richtung und zuckte innerlich zusammen. Matteos und Lucas Vater musterte mich ausführlich und lief nun auf mich zu, die Daumen in den Gürtelschlaufen seiner Hose eingehakt. Das sah mir verdächtig nach einem Gespräch mit dem Consigliere von Sergio Pensatori aus. Scheiße. Mein erster Gedanke war wegzurennen, aber das kam mir dann doch zu kindisch vor. Brav ergab ich mich in mein Schicksal. Aber nur ausnahmsweise.
„Folge mir." Er strahlte eine gewisse Autorität aus. Mehr noch als mein Onkel. Und doch gab seine warme, tiefe Stimme mir ein Gefühl von Sicherheit. Wir liefen zum Besprechungsraum und er gebot mir, einzutreten.
Ich musterte schnell die Einrichtung und nahm alles in mich auf. In meiner Branche war es überlebensnotwendig, auf jedes kleinste Detail zu achten. Der Parkettboden war aus einem dunklen Holz gefertigt und wirkte hochwertig. Die großen Stühle, die um einen riesigen, ovalen Konferenztisch standen, waren aus dunkelbraunem Leder. Auf einer Seite war in die Steinwand ein Bücherregal eingelassen. Dort befand sich ein halbes Dutzend breite Ordner, die ich gern mal durchgeblättert hätte. Ich zog es in Betracht, dass sich in ihnen ein paar nützliche Informationen für die Polizei versteckten. Durch die bodenlangen Fenster überblickte man meilenweit die einzige Zufahrtsstraße.
Ein Räuspern riss mich aus meinen Gedanken und wir ließen uns am Tisch nieder. Der Mafioso setzte sich mir direkt gegenüber, um mich genau im Auge zu behalten. Da kam wohl das nächste Verhör auf mich zu. Meine Schultern sackten etwas ab. Wie friedlich wäre es nun in meinem kleinen Reihenhaus!
„Da mein jüngerer Sohn dich vorhin in seinem Übermut verschreckt hat, wollte ich nun in Ruhe mit dir reden. Ich bin übrigens Lorenzo Calieri."
Verschreckt war gut. Moment, das war die Gelegenheit, es gegen Luca zu verwenden.
„Ich heiße Angela Miller. Und ja, Luca hat mich erschreckt", erwiderte ich stockend mit leiser Stimme. „Ich kenne ihn erst seit Dienstag. Wir sind nicht zusammen. Ich bin nicht so ein Mädchen." Absichtlich legte ich eine negative Betonung auf den letzten Teil des Satzes. Lucas Vater nickte zustimmend. Den hatte ich so gut wie in der Tasche. Innerlich klopfte ich mir anerkennend auf die Schulter.
„Ich möchte darauf hinweisen, dass mein Sohn sich normalerweise gesitteter verhält. Aber darüber wollte ich mich gar nicht mit dir unterhalten." Er betrachtete mich seelenruhig und kratzte sich am Nacken, bevor er fortfuhr. „Wie du vielleicht schon erfahren hast, wurde vor dreizehn Jahren die Cousine von Emiliano und Giulia entführt. Sie war zu dem Zeitpunkt fünf Jahre alt. Sie und Giulia sahen einander verblüffend ähnlich." Ich nickte, denn einen Teil hatte ich schon von meiner Freundin erfahren. Vor dreizehn Jahren, zu der Zeit als ich meine Eltern verlor. Dann hatte ich außer dem Aussehen noch etwas mit dieser Angelina gemeinsam. Zu meiner Familie gehörten nur Menschen, die gegen das personifizierte Böse, die Mafia, kämpften.
Ich war eine Hudson, keine Pensatori. Und das würde ich diesem Lorenzo mit meiner erfundenen Familiengeschichte beweisen. Ich gehörte nicht zu ihnen, sondern zu der hellen Seite der Macht. Wenn ich dafür auf Lügen zurückgriff, war das in meinen Augen völlig gerechtfertigt. Die Geschichte hatte Onkel Sam sich für die Mission ausgedacht. Und ich hatte sie mit Sicherheit wenigstens einhundert Mal im stillen Kämmerlein runtergebetet. Jedes noch so kleine Detail war mir so vertraut, als ob es zu meinem Leben gehörte.
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Tempestuoso - A Storm is Coming
Chick-LitAngela Hudson, eine auf den ersten Blick unscheinbare Achtzehnjährige, kommt neu in die Stadt. Ihr Auftrag? Die Mitglieder einer Mafiafamilie hinter Gitter zu bringen. Eine Leichtigkeit, denkt sie, als sie ihre Wohnung in Philadelphia bezieht. Zusam...