Kapitel 20 ✔️

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„Wieso habt ihr Giulia überhaupt mitgenommen?" Ich kaute gedankenversunken auf der Innenseite meiner Wange und schaute fragend in die Runde. Wir hockten im Wohnzimmer der Villa wie die Hühner auf der Stange, die Mienen nachdenklich oder geknickt.

„Sie hatte sich in einen Wagen geschmuggelt und ich hatte sie erst bei der Lagerhalle entdeckt." Emilianos Stimme klang verzweifelt. Tränen standen in seinen Augen. In seiner Haut wollte ich sicher nicht stecken. Er hatte dabei versagt, seine kleine Schwester zu beschützen. Aber im Gegensatz zu ihm hatte ich eine Vermutung, wo sie aller Wahrscheinlichkeit nach steckte und wer sie entführt hatte. Mir brach der kalte Schweiß aus. Es konnte nur einer dahinterstecken und ich würde ihm allein gegenübertreten. Dafür musste ich allerdings den Schutz der Familie loswerden. Ich beschloss, mein klärendes Gespräch mit Michael zu verschieben.

„Bringt mich bitte jemand nach Hause?" Ich gähnte übertrieben herzhaft.

„Nein, du bleibst hier. Es ist viel zu gefährlich für dich." Emiliano starrte mich mit seinen grünen Augen wütend an. Widerstand, den ich in dieser Situation erwartet hatte.

„Emiliano, sie waren nie hinter mir her. Ich habe ein Gespräch der Russen aufgefangen. Die haben mit irgendeinem Typen telefoniert, der Giulia haben wollte. Die Idioten haben uns verwechselt. Bitte lass mich diese Nacht nach Hause. Morgen früh könnt ihr mich abholen und dann bleibe ich für immer hier." Bettelnd sah ich ihn an.

„Für immer? Versprichst du das?" Sein Blick wurde sanfter. Es erwies sich als praktisch, dass ich meine wahre Identität noch geheim hielt. Denn sonst würde er sich nicht darauf einlassen.

„Versprochen. Jetzt fahrt mich endlich. Danach könnt ihr euch voll auf die Suche nach Giulia konzentrieren. Ihr müsst sie einfach finden." Die Jungs nickten mir zu. Michael stand auf und hob mich hoch.

„Ich kann selbst laufen", murrte ich, doch der Lakota knurrte nur. Also akzeptierte ich, dass er mich ins Auto setzte.

„Woher kommt dein Sinneswandel? Du ziehst freiwillig wieder in die Villa?"

„Erkläre ich dir gleich, wenn wir bei mir sind." Hatte er nicht verstanden, wieso ich in der Lagerhalle seinen indianischen Namen verwendet hatte? Ich knabberte auf meiner Unterlippe.

Zuhause angekommen, zog ich ihn hinter mir her nach drinnen. Dann riss ich mit zitternden Fingern sein Shirt hoch und suchte die Narbe, die ich auf der Höhe seines Herzens vermutete. Dort war sie, klein und etwas heller als der Rest der Haut. Ich legte den Zeigefinger drauf.

„Du erinnerst dich also wieder." Seine warme Stimme hüllte mich ein. Schnell schlang ich meine Arme um ihn und er tat es mir gleich. Einige Minuten verharrten wir schweigend so.

„Michael? Vertraust du mir?" Ich suchte vorsichtig Blickkontakt.

„Aber natürlich meine Kleine. Wieso fragst du?" Sein Atem streifte meine Wange. Ich schluckte nervös.

„Ich muss euch verlassen, aber ich werde Giulia befreien." Ich hörte ihn scharf einatmen. Dann löste er sich von mir.

„Du weißt also, wer dahintersteckt." Seine Kiefer spannten sich. Ich fürchtete, dass er mich direkt wieder zur Villa fahren würde, daher redete ich schnell weiter.

„Ja, ich weiß es, aber ich muss ihm allein gegenübertreten. Da hängt noch viel mehr dran, als euch bekannt ist." So viel mehr und ich würde alle zermalmen. Wut stieg wieder in mir hoch. Ich war wütend, dass Hudson meine Eltern getötet hatte. Wütend, dass er mich die ganze Zeit belogen hatte. Wütend, dass er mich gegen meine eigene Familie eingesetzt hatte, um an Giulia ranzukommen.

Diese Wut würde ihn vernichten.

Michael suchte Blickkontakt. Seine dunklen Augen studierten jeden Millimeter meines Gesichts. Ich vermutete, dass er sich wegen meines Gemütszustands sorgte. Aber ich musste da alleine durch. In meinem Innersten tobte ein Sturm, der endlich an die Oberfläche drang.

Tempestuoso - A Storm is ComingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt