Kapitel 44 ✔️

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Ich starrte fassungslos auf das Gemälde an der Wand. Die langen braunen Haare, der von der Sonne geküsste Teint, die rehbraunen Augen. Ein Ebenbild meiner Cousine Giulia. Doch das Bildnis war weitaus älter. Feine Risse durchzogen die Farbschicht wie Falten das Gesicht einer Hundertjährigen. Einhundert Jahre, so alt schätzte ich das Gemälde. Es stellte meiner Vermutung nach unsere Ahnin Giulia Pensatori dar, auch bekannt als Julia Tempestuoso. Auf dem Bild war sie in grob geschätzt siebzehn Jahre alt. Ich schloss daraus, dass es vor ihrer Einreise in die USA angefertigt worden war.

„Eine wahre Schönheit, nicht wahr?", schwärmte der ältere Italiener neben mir. „Und diese Ähnlichkeit ist schier unglaublich. Nur die Augenfarbe weicht ab." Fasziniert betrachtete er mich, als wenn ich kein Mensch, sondern ein Kunstobjekt wäre.

Ich hörte jemanden neben mir tief einatmen. Ein Seitenblick verriet mir, dass es Luca war. Seine Kiefermuskeln spannten, seine Augen waren starr auf das Gemälde gerichtet. Ihm gefiel es genauso wenig wie mir, ein Bild meiner Ahnin hier zu sehen. Doch während es meine Neugier weckte, sorgte er sich, wie wir aus dieser Sache heil herauskamen. Auffällig legte er seinen Arm um meine Schultern, zog mich an seine Seite. Demonstrierte damit allen Anwesenden seinen Besitzanspruch. In Gedanken verdrehte ich die Augen. Die italienische Mafia und ihre Machos. Als ob Frauen Besitztümer wären.

„Sie sehen ihr wirklich erstaunlich ähnlich." Der ältere Italiener trat an meine andere Seite. Sein Blick studierte wieder jeden Millimeter meines Gesichts. Ein weiteres Augenpaar betrachtete mich intensiv, Romero. In seinen Augen lag vor allem Neugier, aber auch etwas Enttäuschung entdeckte ich. Der war doch nicht etwa an mir interessiert? Instinktiv drückte ich mich enger an meinen Mann. Bei den meisten italienischen Mafiafamilien waren die Ehefrauen anderer Mafiosi tabu. Daher hoffte ich, dass es hier genauso war. Wieder betrachtete ich das Gemälde.

„Ich kann Ihnen gern die Geschichte dazu erzählen", bot der Mann neben mir an. Er hatte sich bisher nicht vorgestellt, doch ich vermutete, dass es sich um das Familienoberhaupt handelte. Ihn zu enttäuschen oder sich ihm gar zu widersetzen, konnte gefährliche Folgen haben. Abgesehen davon, dürstete es mich zu erfahren, was meine Ahnin mit dieser Familie zu schaffen hatte. Daher stieß ich Luca an, der für uns beide zustimmte.

„Dann sollten wir uns setzen." Mister Unbekannt wies auf einen Raum zu unserer rechten Seite.

„Mit wem haben wir denn das Vergnügen?", fragte ich, als wir das Zimmer betraten, das sich als riesiges Wohnzimmer entpuppte. Diverse Kunstgegenstände, die meiner Meinung nach in ein Museum gehörten, standen in geregelten Abständen an den Wänden.

„Giacomo Finucci." Die Finucci-Familie. Ich überlegte kurz. Romero sagte im Restaurant, dass sie ebenfalls von Sizilien stammten. Es gab dort so viele Mafiafamilien, dass man annehmen konnte, die ganze Inselbevölkerung wäre bei der Mafia. Dem war aber nicht so. Dennoch waren es zu viele Familien, als dass ich jede in meinem Gehirn abgespeichert hatte.

„Signorina?" Wie bitte? Was fiel dem Mistkerl ein? Mit zu Schlitzen gezogenen Augen starrte ich den Sprecher an. Romero zuckte sichtbar zusammen. Dabei schwappte das Glas Wasser in seiner Hand über.

„Ich meinte natürlich Signora", verbesserte er sich schnell. Nervös biss er sich auf die Unterlippe. Tja, wenn ich etwas in den letzten Monaten gelernt hatte, dann italienische Mafiosi einzuschüchtern. Vor allem mein Cousin hatte darunter zu leiden. Allerdings hatte er mich auch oft genug bis aufs Blut gereizt.

„Sie sind also mit den Pensatori verwandt." Der ältere Finucci schaute mich gelassen an, Luca dagegen beachtete er nicht. „Sagt Ihnen der Name Giulia Antonetti etwas?" Er beugte sich ein wenig vor, wartete auf eine Reaktion meinerseits.

Tempestuoso - A Storm is ComingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt