Kapitel 37 - in Vogelperspektive ist alles besser

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Dieses mal habe ich nichts als ein gutes Gefühl. Ich gehe in diese Prüfung, schreibe diese Prüfung und schaffe diese Prüfung. Die verschiedenen Abläufe in Leber, Darm und Muskeln leere ich direkt aus meinem Gehirn auf den Zettel vor mir. Als kleine Deko male ich noch ein paar hübsche Bilder hin, von den Chylomikronen, die mich gestern im Traum verfolgt haben.

Als ich den Zettel abgebe, bin ich zufrieden.

Sehr zufrieden sogar.

So zufrieden, dass ich mir vorstelle im OP zu stehen und in die Leber zu schneiden - mit einem Lächeln im Gesicht und Glänzen in den Augen, denn jetzt weiß ich ganz genau wie dieses Ding funktioniert. Obwohl wahrscheinlich vergesse ich es in den nächsten Tagen wieder.

Naja, egal.

Bevor ich mich auf den Weg zu Susan mache, renne ich noch zur Toilette. Im Spiegel sehe ich ein Mädchen, dessen Haare nun schon fast wieder gleich lang sind als damals, als ich sie abgeschnitten habe. Meine blauen Augen sind heute ungeschminkt, dafür haben in der Früh einfach die Nerven gefehlt.

Ich lächle mich an, um mich aufzuheitern, doch es funktioniert nicht. Ich habe die Prüfung perfekt geschrieben, doch ich kann mich einfach nicht freuen. Als ob mich die Fähigkeit verlassen hat.

Das leere Gefühl, dass mich schon die ganze Zeit verfolgt, macht sich wieder breit und mein schlaffes Lachen verschwindet wieder. Stattdessen bohrt sich mein Finger in meine Haut und ich fühle, wie sich ein paar Tränen anschleichen.

Was ist nur los mit mir? Kann ich nicht einfach glücklich sein? Alleine? Ist das so schwer?

Ich schüttle alles ab, atme tief ein und sehe in den Spiegel. Vor mir steht ein Mädchen, dass in diesem Jahr einiges geschafft hat. Aber da steht auch ein Mädchen, dass im Moment das Gefühl hat, gegen sich selber zu kämpfen.

Und bei dem Kampf kann man nur verlieren.

Wirklich jetzt, denkt mal darüber nach.

Meine Beine Tragen mich aus den Toiletten in den Flur, die Stiegen hinunter und ins Freie. Wie in letzter Zeit oft erstrahlt die Sonne die Stadt und zeigt mir den Weg zu den Toren. Ich grabe mein Gesicht in meine Windjacke und suche mit meinen Fingern in meiner Jackentasche nach meinen Kopfhörern.

Musik kann mich immer aufmuntern.

Das weiße, verknotete Kabel fallt mir auf den Boden und ich greife fluchend danach. Die Musik will wohl nicht in mein Ohr. Als ich mich bei den Kopfhörern beschwere, dass sie gefälligst folgen sollen, weil ich sie sonst mit den neuen fancy airpods ersetze, sehe ich es erst.

Oder besser gesagt ihn.

In Lederjacke an den Torbogen gelehnt, schmunzelnd und locker - wie Jake Andrews eben so durch die Gegend läuft. Wenn ich so aussehen würde, würde ich auch so durch die Gegend laufen. Naja, vielleicht würde ich das T-shirt weg lassen.

Egal, zurück zu den wichtigen Dingen.

Wie um Himmels Willen hat er mich hier gefunden?

"Ich schreibe morgen eine Prüfung im Physiologie-Gebäude.", habe ich meine Stimme von gestern im Kopf.

Eigentlich sollte ich die Alarmglocken hören, ich sollte erstarren und meinem Herzen dabei zusehen wie es kickt und jammert und auf der Stelle in einen anderen Menschen möchte, weil es das alles einfach nicht mehr aushält.

Doch nein, als ich ihn sehe bleibe ich ruhig. Ich spüre wie mein ganzer Körper sich entspannt, sich ein Kribbeln breit macht und bis in meine Ohren aufsteigt. Als ob ich gerade erfahren habe, dass ich die nächsten drei Monate ohne Sorgen in einer Hütte am Meer leben kann. Als ob alles vor mir klar wird.

Als ich seinen Blick sehe, wird der Autopilot wieder komplett eingeschaltet, meine Vernunft von gestern hat gar keine Chance mehr.. Ich lächle ihn an, er lächelt mich an.

Die Welt bleibt stehen.

Alles wird ruhig.

Und als ob mich jemand in seine Richtung schubst, gehe ich langsam auf ihn zu und überlege nicht einmal ansatzweise zu stoppen. Das erste mal in den letzten Monaten, habe ich das Gefühl, ich weiß was ich will.

Ich will nicht mehr kämpfen, ich will es einfach zulassen.

Manchmal muss man sich einfach trauen im Leben, auch wenn man sich damit verletzlich macht. Aber etwas krampfhaft nicht zu tun, obwohl das einen unglücklich macht, verletzt einen halt auch.

Und in diesem Moment, in dem ich auf Jake Andrews zugehen, in dem traue ich mich einfach.

Er richtet sich auf, sieht das Glänzen in meinen Augen und kommt mir entgegen. Ich werde immer schneller, kann es kaum erwarten, fühle mich, als ob er noch immer einen Kilometer entfernt steht und ich ihn einfach nicht erreichen kann.

Meine Kopfhörer fallen zu Boden, als ich meine Jackentasche verfehle, doch es ist mir egal.

Denn in diesem Moment falle ich in die Arme des Jungen, nach dem ich mich schon so lange sehne. Er dreht mich im Kreis, stellt mich wieder hin und endlich passiert es: wir küssen uns.

Die Kamera dreht sich um uns, wechselt zur Vogelperspektive und wir küssen uns weiterhin. All die letzten Monaten, der Frust in den letzten Wochen mir selbst einzureden, nicht mit ihm zusammen sein zu wollen.

Alles stecken wir in diesen Kuss.

Irgendwann grabe ich meinen Kopf in seine Brust und er umschlingt meinen Körper mit seinen Armen. Ich spüre seine weichen Lippen auf meiner Stirn, als er mich fest zusammendrückt.

Ich könnte weinen, schreien und lachen gleichzeitig.

Es wäre nicht einfach, aber ich könnte es.

Nun ist die Kamera ausgeschalten, denn es gibt nur uns zwei, endlich wieder zu zusammen.

Der Kampf ist vorbei.

Und es tut so gut.

Die Neue Teil 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt