Ich hatte mir immer vorgestellt, dass mein Leben genauso ablaufen würde. Voller Gewalt und Drogenstreitigkeiten, die immer wieder in Massenschlägereien oder auch Schießereien gipfelten. Der ewige Kampf um Respekt, an dessen Spitze ich irgendwann stehen würde. Alles, was Kiral von mir verlangte, war ein Schritt in genau diese Richtung.
Und trotzdem hinterließen seine Worte nicht ansatzweise ein so gutes Gefühl, wie ich es mir immer gewünscht hätte. Sondern irgendwie ziemlich scheiße. Sie stressten mich. Verursachten ein unruhiges Grummeln in meiner Magengegend und mit einem Mal war da die Überforderung. Was sollte ich mit diesem Ding anstellen? Erwartete er ernsthaft, dass ich einen Menschen abknallte?
Scheiße, Mann, das hier war gar nicht gut. Es fühlte sich auch nicht richtig an, obwohl es das definitiv hätte müssen.
Ich sollte mich mal nicht so anstellen, echt nicht. Außerdem musste ich damit ja auch nicht wirklich ein Leben auslöschen. Bisschen Drohen genügte wahrscheinlich und die würden tun, was ich ihnen sagen würde. Eigentlich war es doch etwas Positives, dass Kiral mir so vertraute. Dass er mir so viel Macht in die Hand gab.
»Geht's dir gut?« Seine scheinheilige Besorgnis trieb mir auf einmal beinahe den Mageninhalt die Speiseröhre hoch, dabei käme es alles andere als super, ihn anzukotzen. Er sollte nicht so dumm tun. Er sollte keine Sekunde daran zweifeln, dass ich nicht bereit war, das zu tun, was nötig war.
Das musste ich sein.
Das würde ich sein.
»Klar«, räusperte ich mich und streckte meine Hand nach der Waffe aus, spürte ihr Gewicht zwischen meinen Fingern. So langsam, wie ich sie von dem Tisch aufhob, machte ich schon diesem aufgeblasenen Gockel Konkurrenz. Schien abzufärben oder so. Wohin jetzt mit dem elendigen Teil? Und wie sollte dieser Bullshit namens Denken funktionieren, wenn die Gedanken viel zu schnell rasten?
»Wir sehen uns.« Knapp nickte ich ihm zu und verstaute die Waffe dann in der Innentasche meiner Jacke. Sie fühlte sich schwerer an als sie eigentlich war, zog mich mit sich auf den Boden, als ich mich aus dem Sessel hochdrückte. Irgendwie fand ich die Vorstellung, das Teil nach Hause zu transportieren und morgen dann damit rumzurennen, echt anstrengend. Machte eigentlich keinen Sinn, wenn ich normalerweise mit Drogen unterwegs war, die genauso Knast für mich bedeuten würden.
Aber trotzdem.
»Ich bin mir sicher, dass du mich dieses Mal nicht enttäuschen wirst, Jay«, verabschiedete er sich und mit einem Mal wünschte ich mir, dass ich einfach nicht gekommen wäre. Dass ich auf die paar hundert Euro geschissen hätte und mir lieber einen gemütlichen Abend mit Tarek im Café gemacht hätte. Irgendwie war mir diese Sache hier doch ein bisschen zu krass
Aber egal. Ich hatte mich für diesen Weg entschieden und dann würde ich ihn auch gehen.
Nichts, das hier zur Diskussion stand.
Ein kurzer Handschlag, dann übergab ich Maxim sein bestelltes Gras und nahm stattdessen das Geld entgegen, das er mir in Form eines zerdrückten Zwanzigers zwischen die Finger drückte. Wahrscheinlich hatte er dafür seine Mami anbetteln müssen, denn dieser Penner tat doch nichts anderes, als vor seinem PC herumzuhängen und irgendwelche Beats zu produzieren.
»Ey, Digga, haste Bock noch einen durchzuziehen?«, fragte er und rückte seine Cappy zurecht. Mittlerweile hatte es aufgehört zu schneien, doch auf dem asphaltierten Boden hatte sich ein wenig brauner Schneematsch gesammelt, der sich mit ausgedrückten Kippen und den Scherben zerbrochener Glasflaschen vermischte.
»Okay«, willigte ich ein, ohne groß nachzudenken. Seine Gesellschaft war immer noch besser, als allein in meinem Zimmer herumzuhängen. Allein mit der Knarre in meinem Schrank, die ich dort unter ein paar Klamotten versteckt hatte. Und Maxim war immer noch besser als Rashid, dem ich immer noch nicht seine Kohle geben konnte, oder Tarek, der mit einem seiner durchleuchteten Blicke raffen würde, dass ich irgendwie gestresst drauf war.
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Die Verlierer - Sklaven des Erfolgs
General Fiction[TEIL 2] Während Jay alles gibt, um der gefürchtetste Dealer der Stadt zu werden, dafür, dass jeder in Berlin seinen Namen kennt, sitzt Federico am Schreibtisch und lernt. Für ein besseres Leben, um eines Tages das Viertel mit seinen versifften Pla...