II.II Kane

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"Da ist noch einer!" Die Worte ließen mich hochschrecken. In einem kurzen Moment der Orientierungslosigkeit sprang ich auf die Füße und brachte mich in Kampfhaltung. "Kane, verdammt, wir sinds!" Ich nahm die Fäuste runter und meine Augen gewöhnten sich langsam an das Licht. Mir gegenüber stand Shila mit einer einer handvoll Soldaten. Die Tigris-Frau kam auf mich zugeeilt. "Mach das du hier wegkommst, Shynen. Ich war drauf und dran die Minen scharf zu stellen!" Ich nickte nur und ging stumm an ihr vorbei. In meinem immer klarer werdenden Kopf sortierten sich die Fakten. Aedas war evakuiert. Die Minen verteilt. Die Na'hi und meine Rebellen schon auf dem Weg nach Distrikt 7, Grabor. 

Grabor bildete den Norden Ildeas. Als größtes Teildistrikt war es noch uneingenommen, was auch durch die vorteilhaften Lage bedingt war. Als die Stadt vor über 20 Jahren noch eins war, lebten hier die wohlhabenden und wirtschaftstragenden Persönlichkeiten. Mit Beginn des Krieges wurde diesen im Kanton Sicherheit versprochen und so verließen sie das bewaldete Hügelgebiet mit seinen prächtigen Villen, von denen heute nur noch heruntergekommene Ruinen zu erkennen waren. Doch für uns war das der perfekte Standort, um neue Energien zu generieren und eine Verteidigung aufzubauen. Die vielen Bäume und Überreste der Gebäude boten vielseitige Möglichkeiten, um Geschützte und eine umfangreiche Verteidigungslinie aufzubauen. Ich war zuversichtlich, dass wir so den Shevu noch eine Weile länger die Stirn bieten konnten.

Vor der großen Kathedrale inmitten Aedas blieb ich stehen. Ein paar wenige gläserne Pfeiler waren ihr geblieben. Und obwohl sie nicht das Haus meiner Religion war, schloss ich die Augen und besann mich auf das Gebet, was ich im Königshaus gelernt hatte. Gesprochen wurde es in einer alten, längst vergessenen Sprache. Aber es bedeutete, dass man nie vergessen sollte, woher man kam. Vor allem als Elemental. Woher wir unsere Kraft bezogen; wie uns Sonne, Erde, Wasser und Luft mit Energie versorgten und wie sehr wir mit der Natur verbunden waren. Ich atmete tief ein und aus und verbeugte mich. Ich würde nie vergessen, woher ich kam. Brenton Kane Shynen. Hineingeboren in einen erbitterten Krieg zwischen überlegenen Shevu und allen anderen. Eltern unbekannt. Adoptiert von Lyra, Dienstmagd des Königshauses. Im Exil aufgewachsen mit den Thronfolgern, Eugene und Sahara. Auseinandergerissen durch den Angriff auf die Oase. Rebellenführer der Na'hi.
"Hey, Shynen. Bereit zu gehen?" Shila und die anderen hatten mich eingeholt. Ich straffte die Schultern und gesellte mich zu ihnen. "Ich komme nach. Geht schon mal vor, stellt die Minen in einer halben Stunde scharf." Sie nickte. Dann verließen sie und die kleine Gruppe den Platz vor der Kathedrale über eine schmale Gasse nach Norden. 

Die Sonne strahlte unbarmherzig auf die Marmorfassaden Aedas und die Hitze sammelte sich in den Straßen. Ich wischte mir den Schweiß vom Gesicht, als ich den dritten Stock einer ehemaligen Hologrammhandlung erreichte. Die Wände waren allesamt herausgerissen worden und vor die leeren Höhlen der Fenster war schwarzer Stoff gespannt. Mein Heiligtum der letzten drei Jahre. Hier entstanden meine Feldzüge, hier schwelgte ich in Erinnerungen und erlaubte es mir, meinen Emotionen freien Lauf zu lassen. Es war nicht leicht, Rebellenführer zu sein. Das Gewicht eines ganzen Volkes lastete auf meinen Schultern. Ich seufzte und klaubte den Rucksack, der auf der notdürftigen Schlafgelegenheit in einer Ecke des Raumes lag. Um die Pläne der Rebellion musste ich mir keine Gedanken machen, die waren gestern mitsamt des Hauptquartiers abgebrannt.
Es wurde Zeit aufzubrechen, wenn ich nicht von einer Mine getroffen werden wollte. Und so trat ich wieder auf die Straße und richtete meinen Blick gen Norden, wo sich am Horizont eine gewaltige Bergkette abzeichnete. In ihrem Schatten lag Grabor, die letzte Hoffnung der Rebellen. Meine letzte Hoffnung.  

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