Kapitel 6

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Kapitel 6

Charlies Sicht:

Ich deutete auf einen Fleck, an dem leichte Rauchschwaden in den Himmel stiegen. Dort waren vermutlich Teile des Flugzeuges abgestürzt und wir könnten sehen, ob noch irgendetwas Brauchbares dabei war. Es war auf jeden Fall besser, als ohne Ziel im Regenwald herumzuirren. Während wir also schweigend nebeneinander her gingen, fragte ich mich wirklich, warum ich tat, was ich tat. Ich hatte gar nicht darüber nachgedacht. Auch wenn ich sie nicht leiden konnte, ich hätte sie trotz allem gerettet. Habe ich ja auch. Aber warum bin ich bei ihr geblieben? Und warum habe ich ihr aufgeholfen? Naja, ist ja auch egal, darüber will ich mir jetzt wirklich nicht den Kopf zerbrechen.

Meine Gedanken schweiften zu meiner Familie ab und dachte daran, wie viele Sorgen die sich jetzt bestimmt machen mussten. Wie werden sie reagieren, wenn ihnen gesagt wird, dass mein Flugzeug abgestürzt und explodiert ist? Glauben sie, ich bin tot? Natürlich denken die das. Es gibt ja „keine Überlebende". Ach, das war doch alles scheiße. Ich steckte mitten im Regenwald, ohne irgendetwas und mit einem Mädchen, welches mir den letzten Nerv raubte, fest und zu Haus dachte man sicher, ich sei tot. Werden sie sich Vorwürfe machen, dass sie so wenig Zeit für mich hatten? Würde Isaac bereuen, sich mit mir gestritten zu haben? Ich wusste es nicht. Und werde es wahrscheinlich auch nie wissen. Ich werde hier wahrscheinlich früher oder später sowieso sterben. Durch wilde Tiere, Dehydrierung, kein Essen, was weiß ich. Es gab leider so viele Möglichkeiten. So ein Kack. „Also... wirst du mich jetzt den gesamten Weg über anschweigen?" fragte mich Xara, doch ich antwortete ihr nicht. Ich hatte gerade wirklich andere Sorgen, als sie zu unterhalten. "Super. Tolle Antwort. Alles klar" sagte Xara und ich konnte durch ihren fake Enthusiasmus ihre Enttäuschung hören. Irgendwie tat es mir gerade etwas leid, so kalt zu ihr zu sein, in irgendeiner Weise hatte sie mich ja gerettet. „Eine Frage" murmelte ich leise und ich sah in meinen Augenwinkeln, wie überrascht sie war, als ich meinen Kopf zu ihr umdrehte. Dann begann sie zu strahlen. „Warum hast du mich gerettet?" fragte sie mich dann wieder komplett ernst. Irgendwie hatte ich gewusst, dass diese Frage früher oder später kommen würde. Ich überlegte kurz, bevor ich antwortete „Weiß ich eigentlich nicht genau. Ich glaube, weil ich dich nicht sterben lassen konnte. Das ist nicht meine Art und irgendwie hast du mich ja auch mit diesem blöden Fallschirm gerettet. Auch wenn ich dich dann davor retten musste " Verwirrt sah Xara zu mir, doch ich blickte sie entschlossen an. „Eine. Frage. Nur eine" und so gingen wir weiter.

Xaras Sicht:

Ach verdammt. Ich hatte so viele Fragen im Kopf, doch ich wusste, dass sie mir diese Fragen entweder nicht beantworten wollte oder konnte. Ich war schon überrascht gewesen, dass sie mir eine Frage gewährt hatte und ich schätzte dieses Entgegenkommen sehr. Irgendetwas schien sie zu beschäftigen und ihr Sorgen zu bereiten. Dachte sie an ihre Familie? Mir kam wieder die Frage des Flugzeugs in den Sinn. Was war mit ihrer Familie? War dies der Grund, warum sie nach Asuncion wollte? Jetzt dachte ich auch an meine Familie. Ich stellte mir die schockierten Gesichter meiner Großeltern vor, welche von Beamten oder durch die Medien erfahren würden, dass mein Flugzeug explodiert war. Meine Eltern würden es im Moment eh nicht mitbekommen. Sie waren gerade auf einen Meeting mit Kollegen und verzichteten größtenteils auf die sozialen Medien, um sich auch die Arbeit konzentrieren zu können. Ich fühlte mich sofort schuldig, als ich daran dachte, welchen Schock ich meinen Großeltern zufügen würde. Aber immerhin hatte ich überlebt und hatte noch Chancen sie wiederzusehen. Und ich hatte Charlie. Das grobe, grummelige Mädchen, welche mir das Leben gerettet hatte. Ich wusste zwar immer noch keine genauen Details, nur dass sie es war, welche mich vor dem tödlichen Sturz bewahrt hatte. Ihr konnte ich vertrauen. Das spürte ich. Ich mochte zwar lange ohnmächtig gewesen sein, doch mein Gedächtnis funktionierte noch einwandfrei. Nachdenklich betrachtete ich das lockenköpfige Mädchen vor mir. Sie war trotz ihrer etwas kleineren Größe nicht zierlich, sondern ihre Arme wirkten kräftig. Nicht bodybuildermäßig, doch man erkannte, dass sie viel Kraft besaß. Charlie hatte generell eine ausdrucksvolle, fast harte Erscheinung. Sie war diese Art von Person, welcher man erstmal aus dem Weg ging und sich in Acht nahm. Ich hatte von ihr eigentlich erwartet, dass sie nur an ihr eigenes Überleben dachte und sich einen Dreck um die anderen scherte. Deshalb hatte es mich ja auch so überrascht, dass sie mir half. Vielleicht war sie gar nicht so abweisend, wie sie immer tat. Doch das konnte ich bis jetzt nur vermuten. Charlie hinkte leicht, trotzdem war sie ein Stück schneller als ich. Sie hatte das Katzenhafte nicht verloren, dennoch waren ihre Bewegungen nicht mehr ganz so geschmeidig wie zuvor. Genervt fuhr sie sich durch ihre roten Haare, welche ihr wie eine Löwenmähne vom Kopf abstanden. Ich widerstand dem Drang durch ihre Locken zu wuscheln, denn ich war mir sicher, dass Charlie das alles andere als amüsant finden würde.

Wir kämpften uns durch das hüfthohe Dschungelgestrüpp. Immer wieder klatschten mir dicke Wassertropfen auf meine zierliche Nase. Meine Jeans war halb zerrissen, meine Arme von Dornen zerkratzt. Langsam schlich sich die Müdigkeit zurück in meine Knochen und ich wurde unkonzentriert. Prompt fiel ich über einen Baumstumpf, der mitten aus dem Boden ragte und stützte mich auf meinen Händen ab. Blutige Schürfwunden zeichneten sich auf meiner Haut ab. Charlie hatte nichts bemerkt, so rappelte ich mich einfach wieder auf und folgte ihr etwas aufmerksamer. Ich wollte ihr nicht direkt wie eine Heulsuse vorkommen. Gott sei Dank waren wir noch keinen Kriechtieren begegnet, sonst wäre mein Leben vorbei gewesen. Charlie blieb stehen. Vor uns lag ein riesiges Flugzeugteil auf dem Boden. "Charlie?"- "Nein!", antwortete sie mir, ich beachtete es aber nicht. "Kann es sein, dass wir noch Leichen hier in der Nähe finden?", fragte ich ängstlich. " 'Türlich...", erwiderte sie, diesmal aber etwas leiser. Ich trat ein paar Schritte näher an das Teil heran. Es war zerschlissen und man konnte nicht erkennen, was es vorher gewesen sein könnte.

Ginger und Little XWo Geschichten leben. Entdecke jetzt