50. Kapitel

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Meine Lungen brannten, ich konnte kaum noch atmen, so schnell bretterte ich die Straßen hinunter. Eiskalter Wind schnitt sich an meinem entblößtem Hals entlang. Nach Luft ringend wurde ich langsamer aber als ich wieder an sie dachte, biss ich die Zähne zusammen und stürmte weiter.

Ich war schon an der Straße angekommen, die auf direktem Weg zum Rheinufer hinunterführte, doch in meiner Blindheit übersah ich natürlich, dass sich der gewohnt glatte Beton an dieser Stelle in grobe Pflastersteine verwandelte. Es kam wie es kommen musste, die Vorderräder verhakten sich in den Lücken der Steine, das Board stoppte ruckartig und ich flog unsanft auf den harten Boden.

Ein stechender Schmerz durchfuhr meine Rippen. So schnell ich konnte setzte ich mich auf und hielt hektisch Ausschau nach meinem Board, was sich als keine gute Idee erwies, da der brüllende Schmerz meines Kopfes mich qualvoll zusammenkauern ließ.

Schmerzerfüllt fasste ich an meinen Hinterkopf. Ich ertastete etwas nasses. Scheiße.

Mein Blick erreichte meinen linken Arm. Alles aufgeschürft. Es brannte fürchterlich.

Das durfte doch nicht wahr sein.

Dann kam mir wieder Mia in den Kopf. Sie leidet mehr als ich. Sie braucht Hilfe.

So schnell es ging, stemmte ich mich mit aller Kraft auf, ließ Board Board sein und humpelte den Rest des Weges zur Hohenzollerbrücke.

Bei jedem Schritt schienen sich Messer durch meinen Brustkorb zu bohren. Männliche Tränen füllten meine Augen, als gerade während ich die Treppen zur Brücke erklomm eine aufgeregte Stimme meine Konzentration durchschnitt. "Du meine Güte!" rief diese weibliche Stimme. Ich sah auf und blickte in das Gesicht einer jungen Frau mit zwei Kleinkindern an der Hand. "Sie müssen ins Krankenhaus, junger Herr!" Ich schüttelte mit aller Kraft den Kopf, was mich weiterhin zusammenzucken ließ, und humpelte weiter.

"Aber...junger Mann!" Doch ich ignorierte sie und schob mich am Brückengeländer Stück für Stück vorwärts. Noch mindestens zehn Menschen versuchten mich dazu zu bringen mir eine ärztliche Behandlung unterzuziehen, doch ich ging auf nichts ein und richtete meinen Blick nur stur geradeaus, bis plötzlich zwei Gestalten in mein Blickfeld gerieten.

Ein Mädchen, mit rundlichem Bauch und rotkariertem Holzfällerhemd und ein Junge, der sie gerade krampfhaft festzuhalten schien. Angestrengt humpelte ich näher.

"M-Mia!" ächzte ich. Ihr Blick traf auf mich. Sie zuckte nicht mit der Wimper. Dad einzige was sie tat, war merkwürdig zu lächeln. Ardy hingegen setzte einen noch entsetzteren Gesichtsausdruck auf, als er ihn ohnehin schon hatte. "Taddl!" sagten beide gleichzeitig, nir mit unterschiedlichen Tonfällen.

"W-was ist mit dir passiert?!" fragte Ardy. "Longboard...Unfall." Meine Stimme begann sich zu einem sektsamen Keuchen zu entwickeln.

"Taddl, ich liebe dich." lächelte Mia mich an. Sie riss sich von dem verblüfften Ardy los und schloss mich in eine Umarmung. Meine Rippen durchfuhr erneut ein stechender Schmerz, doch ich ignorierte dies. Ich genoss einfach nur die Wärme, die sich aufgrund ihrer Umarmung in mir ausbreitete. Sie ließ von mir ab, ihre blaugrauen Augen glitzerten mich an. Man konnte nur die pure Freude in ihnen erkennen, nichts anderes. Ich hatte keine Ahnung weshalb Ardy am Telefon plötzlich etwas von Selbstmord geredet hatte.

Langsam kam ihr Gesicht meinem näher, ich spürte ihren gleichmäßigen Atmen auf meinen Lippen und anschließend die Ihren. Unsere Lippen bewegten sich im absoluten Einklang miteinender, jede Berührung gleichte Feuerwerken, die durch meinen Körper schossen und ein angenehmes Prickeln hinterließen, und wenn ihr mich fragt, war das der schönste Kuss den wir je hatten.

"Würdest du alles für mich tun?" flüsterte sie in den Kuss. Ich musste lächeln. "Natürlich." "Würdest du für mich überall hingehen, bis in den Tod?" "Natürlich." Während dieses Kusses konnte ich nicht nachdenken. Ich konnte einfach nicht nachdenken. Der Kuss betäubte einfach meine gesamten Schmerzen und dazu noch meinen Verstand. Ich konnte nicht darüber nachdenken, welche verhängnissvollen Sachen ich ihr gerade versprach.

"Würdest du... mit mir in den Tod springen wenn ich es wollte?"

Diese Frage ließ mich kurz innehalten. Der Kuss...er war so wunderschön, er versetzte meinen gesamten Körper in eine Art Lähmung, welche den ganzen Schmerz des Unfalls komplett verfliegen ließ. Ich wusste, dass diese Frage auf keinen Fall ernstgemeint sein konnte und lachte auch kurz auf. Ich wusste, sie würde den Kuss sofort abbrechen und mich gespielt saier ansehen, wenn ich verneinte.

Also sagte ich das schrecklichste und verhängnissvollste aller Worte die ich je über die Lippen gebracht hatte: "Natürlich."

Ein Ruck durchfuhr meinen Körper.

Doch es war kein Ruck, den ich selbst verursachte. Er kam von jemand anderem, als würde mich jemand gewaltvoll zur Seite reißen.

Ohne jedigliche Kontrolle über meinen Körper zu haben, spürte ich, wie ich plötzlich den Boden unter meinen Füßen verlor. Ich spürte, wie sich das Geländer der Brücke in meine Seite bohrte. Ich spürte, wie ich beinahe in Zeitlupe hinübergezogen wurde.

Entsetzt riss ich meine Augen auf, und blickte in die Mia's. Sie weinte. Sie weinte fürchterlich und trotzdem waren ihre Mundwinkel nach oben gezogen. Ich hörte laute Schreie um mich herum, Menschen die zusehen mussten, wie wir geradewegs ins Verderben fielen. Ich stieß dieses grausame Geschöpf von mir weg. Warum? Warum hatte sie das getan? Wir hätten das alles hinkriegen können. Wir hätten eine Familie werden können. Ardy hätte uns helfen können. Unsere Eltern hätten uns finanziell unterstützen können. Ich hätte Vater werden können.
Können.

Der eiskalte Wind schnitt sich in mein Gesicht als wir fielen. "Warum?! Warum, WARUM?!" Brüllte ich noch, bevor dieser entsetzliche Schmerz meinen Körper in einen Zustand versetzte, in dem ich nicht mehr denken konnte.

Es fühlte sich an, als ob alle meine Knochen im Körper zerbrechen würden wie Glas, bevor das kalte Nass mich umschloss.

Meine Lungen füllten sich mit Wasser, ich fühlte mich wie ein Stein, der nichts machen konnte, als der schäumenden Wasseroberfläche zuzusehen, die immer weiter entfernt schien...

Mia Pov

"Natürlich." hallte es in meinem Kopf wieder.

Es war eine Bestätigung. Eine eindeutige Bestätigung.

In meinem Kopf hatte sich schon einiges umgeschaltet. Ich fragte mich Dinge, die sich sonst nur Philosophen oder Suizidgefährdete dachten. Wozu der ganze Stress wenn man auch ganz einfach sterben konnte? Man fühlt nur einen kurzen Moment des Schmerzes, doch danach bereut man garnichts. Warum also nicht? Warum?

Erneut lächelte ich, bevor ich einen Arm um meinen Freund legte und ihn ruckartig, so fest ich konnte in Richtung Geländer zog. Ich konnte es tun, ich konnte es endlich tun. So lange hatte ich auf diesen Moment gewartet, mir ihn ausgemalt. Dieser Moment wo ich endlich einmal frei sein konnte. Diesen Moment, an den man sich nicht erinnert, ihn aber auch niht bereut. Dieser Moment, der für die Ewigkeit steht. Dieser Moment, vor dem Tod.

Erschrocken öffnete die Liebe meines Lebens seine eisblauen Augen und blickte mir entsetzt ins Gesicht, als wir über das Geländer rutschten.

Mein Blick fiel zu Ardy, der zh schreien schien. Fast erwischte er uns noch am Fuß, doch er war zu langsam.

Armer Kerl. Musste ohne seinen besten Freunden weiterleben. Wäre er mal mit mir gesprungen. Dann hätte er dieses Problem jetzt nicht.

Mein Blick fiel wieder auf Taddl, der mich im senkrechtem Fall von sich weg stieß. Vielleicht überlebte er. Vielleicht überlebte mein Baby. Vielleicht überlebte sogar ich. Doch das wollte ich jetzt alles nicht wissen. Ich wollte nur den Moment genießen, sonwie ich ihn jetzt erlebte.

Wie der Wind meine Haare aus dem Gesicht wehte, wie das brausende Wasser des Rheins mir immer näher und näher kam.

Und es endete.

Es endete genau so, wie diese ganze Scheiße hier angefangen hatte.

Mit einem Fall.

Nur, dass ich dieses Mal nicht aufgefangen wurde.


Meine neue Familie (Feat.: Taddl <333)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt