Brökelnde Fassade (1)

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Am Morgen war alles so wie immer. Ich machte Frühstück. Korrektur: Ich machte mir Frühstück, zog mich an, putzte Zähne und fuhr gemeinsam mit Nani und Tara mit dem Bus zur Schule. Es war zwar ungewohnt, dass ich jetzt regelmäßig Mahlzeiten zu mir nehmen konnte und nicht mehr von meiner Mutter geschlagen werde, aber es ist auf jeden Fall besser so als andersrum. Die ersten vier Schulstunden ging schnell vorbei und waren auch relativ ok. In Deutsch lesen wir momentan das Buch 'Tschick'. Meiner Meinung nach ist das Buch nicht empfehlenswert, aber naja. Dazu müssen wir ein Lesetagebuch machen, 😒. In der Doppelstunde habe ich mich gezwungen das Buch zu lesen, weil ich noch nicht sonderlich weit war. Danach hatten wir Geschichte. Wir nehmen zurzeit den zweiten Weltkrieg durch. Ich finde das sehr interessant und spannend. Wir guckten einen Film, der jetzt weniger schön war, aber doch irgendwie spannend.

In den Pausen haben Tara, Nani und ich viel geredet, gelacht und rumgealbert. Leider werden wir auf der Schule mehr als Außenseiter betrachtet, weswegen wir seit dem Wechsel auf die weiterführende Schule keine neuen Freunde gefunden haben, aber das stört uns nicht. Wir denken uns immer, solange die uns nicht mobben oder schikanieren ist es ok ein Außenseiter zu sein.

Nach der zweiten Pause hatten wir Sport und das war nicht so toll. Wir hatten Vertretung und weil der Vertretungslehrer nicht in den Unterricht von unserem Sportlehrer reinfuschen wollten, spielten wir Zahlenfußball. Ihr wisst schon dieses dämliche Fußballspiel, wo eine Zahl genannt wird und dann noch zwei Zahlen drüber und drunter auch noch spielen mussten. Naja, jedenfalls wurde mir, als ich einmal spielen musste, der Ball aus jemanden von meiner Mannschaft ins Gesicht geschossen. Der Lehrer pfiff ab. Mein Gesicht tat am Anfang ganz schön weh, aber nach einiger Zeit ging es wieder. Na gut ich habe es auch mit einem Kühlakku gekühlt. Zum Glück war danach auch 5 Minuten Pause.

Danach musste ich einmal wieder aufs Feld und dabei wurde voll gegen mein rechtes Knie geschossen. Unglaubliche Schmerzen schossen durch mein Körper und ich glaube sogar ich habe ein leises Knacken gehört. Ich hüpfte an die Wand und hielt mir mein Knie. Wieder pfiff der Lehrer ab und kam zu mir. Auch Nani und Tara kamen angerannt. „Alles in Ordnung?", fragte mich der Lehrer und ich schüttelte den Kopf. „Holt einer von euch ein weiteres Kühli?", fragte er an Tara und Nani und Nani lief sofort los. „Am besten setzt du dich auf die Bank und schaust die restliche Stunde zu," sagte er an mich gewandt. Tara stützte mich zur Bank und blieb auch bei mir sitzen. „Schmerzt es sehr?", fragte Tara besorgt. „Naja schon ziemlich, aber das liegt bestimmt daran, das der Ball frontal gegen mein Knie geprallt ist," versuchte ich es runterzuspielen, doch Tara schaute mich nur skeptisch an. Dann kam auch schon Nani mit einem Kühli angerannt. Sofort nahm ich ihn und legte diesen auf mein Knie. „Isa, wir denken du solltest damit zum Arzt gehen. Deine Mutter ist doch jetzt nicht mehr da, deswegen hast du doch nichts mehr zu befürchten," meinte Nani nach einiger Zeit. „Und was soll ich bitte meinen Brüdern sagen. Sie sollen nicht jetzt nach Mamas Tod einen Hass auf sie entwickeln. Außerdem soll man über Tote nicht schlecht reden," erwiderte ich. „Deine Brüder musst du es doch nicht sagen. Ärzte stehen unter Schweigepflicht und die Polizei können sie auch nicht mehr einschalten, da deine Mutter doch weg ist," versuchte es nun auch Tara. „Überhaupt wird es deinen Brüdern früher oder später auffallen. Vor allem wenn sich deine Schmerzen weiter verschlimmern," ergänzte Nani bevor ich etwas sagen konnte. Ich weiß, dass die beiden sich Sorgen machen und am liebsten würde ich alles dafür geben, damit die Schmerzen aufhören, aber es gibt eben noch ein anderes Problem. Ich war noch nie bei einem Arzt. Ich weiß nicht was sie machen. Ob sie mir weh tun oder mir helfen. Nani und Tara erzählen manchmal von Ärzten die in die Zähne schauen und das die auch bohren oder von Ärzten, die dir was in die Augen tropfen. Das tut doch bestimmt alles weh. Ich will nicht, dass sie mir weh tun. „Ich weiß ihr meint es nur gut, aber so schlimm ist es nicht und ihr wisst, dass ich mich damit abgefunden habe," entgegnete ich deswegen und zum Glück beließen die beiden es dabei. Na gut, die beiden konnten eh nichts mehr erwidern, weil der Lehrer sagte, dass die beiden ruhig weitermachen können. Aber auch nach der Stunde und im Bus sprachen sie das nicht mehr an. Zwar hinkte ich jetzt ein wenig mehr, aber es ist ja jetzt eh Schluss.

Zu Hause machte ich mir erstmal Essen, dann schaute ich ob ich Hausaufgaben hatte. Glücklicherweise hatte ich keine, sodass ich mich auf das Sofa setzte und mein Bein hochlegte. Ich war froh, dass ich mich ausruhen konnte ohne irgendwas machen zu müssen. Es ist so eine Erleichterung zu wissen, man wird nicht geschlagen und man muss nicht jeden Tag putzen. Doch plötzlich wurde die Ruhe durch die Klingel zerstört. Ich schaute auf die Uhr wir haben 14:05. Wer das wohl ist?

Ich humpelte zur Tür und öffnete diese. Davor standen all meine Brüder. Na super, warum mussten sie ausgerechnet heute kommen, wenn das Humpeln zu vermeiden so schwierig ist. „Hey, was macht ihr denn hier," fragte ich sie daher überrascht. Oh, warte. Sie sind bestimmt hier, um mir in dieser "schwierigen Zeit" beizustehen und bestimmt wollen sich mich mit zu sich nehmen, da ich ja noch zu jung bin, um alleine zu leben. „Hey, wir wollten dich eigentlich trösten, weil wir dachten du wärst am Boden zerstört, aber anscheinend geht's dir ganz gut," meinte Felix überrascht. Oh ja mir geht es auch gut. „Lieb, dass ihr mich trösten wollt, aber ich wollte gerade ein bisschen Schlafen, weil ich in der Nacht nur geweint habe," log ich sie an. Eigentlich hasse ich es zu Lügen und vor allem bei meinen Brüdern, aber sie sollen ja nicht wissen, dass ich so gut wie nicht trauere. „Achso, dann mach das. Wir werden in der Zeit so leise wie möglich ein paar Sachen von dir Packen. Ich habe nämlich schon das Aufenthaltsbestimmungsrecht von dir bekommen. Deswegen wollten wir dich auch mit zu uns nehmen," entgegnete Tino. Seht ihr, ich dachte mir schon, dass sie deswegen da sind und ich hatte recht. Hoffentlich wohnen sie hier in Maastricht um ehrlich zu sein, habe ich nie gefragt, wo sie wohnen. Ich war einfach immer glücklich, wenn sie hier waren. Ich durfte ja nie zu ihnen gehen, weil Mama sonst ja nicht wusste, ob ich es ihnen sage. „Wohnt ihr denn auch hier in Maastricht? Ich möchte nämlich nicht von Tara und Nani weg," fragte ich meine Brüder. Mittlerweile hatten wir uns auch auf das Sofa gesetzt und ich weiß nicht wie aber ich habe es ohne auffälliges humpeln geschafft auch wenn ich zurzeit mehr Schmerzen habe als sonst. Meine Brüder fingen an zu lachen. Alle lachten außer Felix er schien nicht richtig zu zuhören. „Keine Sorge, wir wohnen in Maastricht. Haben wir dir nie erzählt, dass wir ein Haus an der Maas haben. Wir haben sogar  hinter dem Garten ein Steg, wo wie unser eigenes Boot liegen haben," erzählte Elias lachend. „Nein habt ihr nicht. Klingt aber cool, woher könnt ihr euch das denn leisten. Ein eigenes Boot und ein Haus am Fluss?" fragte ich weiter nach. „Naja, als Immobilienmarkler verdient man nicht schlecht und von Papa haben wir auch noch geerbt," antwortete Tino. Ich nickte nur. Ich war sehr überrascht und irgendwie auch beeindruckt. „Aber schlaf jetzt erstmal ruhig. Wir packen dir ein paar Sachen. Am besten wäre es, wenn du in Mamas Schlafzimmer schläfst, damit wir in dein Zimmer können," meinte Milan und ich stimmte zu. Mit Mamas Schlafzimmer verknüpfe ich keine negativen Erinnerungen, da ich dort eigentlich nur zum putzen rein durfte. Also wollte ich dahingehen, aber nein es blieb erstmal bei wollte. Ich musste ja unbedingt mit meinem rechten Knie gegen die Tischkante knallen. Vor Schmerz schrie ich auf und setzte mich wieder aufs Sofa. Ich merkte wie meine Brüder mich verwirrt ansahen. So ein Shit. Jetzt kann ich nur hoffen, dass sie das damit verbinden, das ich gegen die Tischkante gedonnert bin.

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