Kapitel 5

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"Jetzt!"

"Jetzt?"

"Jetzt!", nickt sie, "Ich habe eine Ausbildungsstelle in Trost bekommen. Dort holen wir uns eine kleine Wohnung, nur für uns beide!", erklärt mir Cam selbstsicher.

"Cam..."

"Ja?"

"Wieso willst du so sehr von hier weg?"

Sie sieht mich schockiert an und setzt alle Räder in ihren Kopf in Bewegung, um eine Antwort zu finden.

"Hör zu Quinn...", sie atmet tief ein, "...jetzt verstehst du es nicht, aber du musst mir glauben, dass diese Wohnung ein mieses Loch ist. Vertraust du mir voll und ganz, so wie, wir uns schon immer vertraut haben, weil wir Brudi und Schwesti sind?"

"Ja"

"Dann glaube mir, dass wir hier wegmüssen, jetzt!"

Ich habe ihr impulsiv geantwortet, nicht darüber groß nachgedacht. Aber wenn ich genau das nun tue, fällt mir kein einziges Mal ein, wo ich mich nicht absolut auf sie verlassen konnte. Sie hat mich immer jeden Tag vom Kindergarten abgeholt und jetzt auch von der Schule. Sie hat immer nach mir gesucht, wenn ich bei Freunden war und vergessen hatte, es vorher zu sagen. Sie kocht immer für uns und macht die Wäsche, ja ich helfe ihr oft, aber dennoch.

"Ich vertraue dir, Schwesti, immer!"

"Gut", lächelt sie, "Dann, los!"

Sie zieht mich vom Bett und läuft zügig zur Tür unseres Zimmers.

"Bist du bereit?"

"Schätze schon"

Sie dreht den Schlüssel und öffnet die Tür so leise wie möglich nur ein kleiner Spalt breit.

"Er schläft.", flüstert sie, "Wir müssen leise sein!"

"Okay", willige ich ebenfalls flüsternd ein.

Sie öffnet die Tür gerade genug, dass wir nacheinander händehaltend hindurchpassen. Wir setzten einige vorsichtige Schritte nach vorn. Erst jetzt kann ich auch Papa sehen. Er schläft auf den Bauch quer auf den Wohnzimmertisch, in den gleichen dreckigen Anziehsachen wie gestern. Sein Kopf, Beine und Arme hängen über der Tischkante hinaus. Zwischen den Fingern seiner rechten Hand, nah am Boden, ist eine drei viertel leere Flasche mit blauem Etikett und durchsichtiger Flüssigkeit.

Als wir es bis hinter die Couch, die eine Trennwand zwischen uns und den Tisch bildet, geschafft haben, quetscht die Laminatplanke unter meinen Fuß. Wir beide erstarren. Unsere Blicke schießen zu Papa. Er bewegt sich nicht. Wir wagen, herzklopfend weitere Schritte.

"Cam?", ertönt eine müde, raue und tiefe Stimme, "Quinn? Was macht ihr für ein Schwachsinn?"

"Wir ziehen aus.", spricht Cam ruhig, obwohl wir beide wussten, dass ihn diese Nachricht verärgern würde.

Er steht pochend und stöhnend auf und kippt sich den restlichen Inhalt der Flasche in den Mund. Zumindest versucht er es. Er verfehlt sein Mund so sehr, dass sein rotes Unterhemd klatschnass wird.

"W... Was?", unterdrückt er sich das Lachen, "Ein scheiß werdet ihr! Los, zurück in euren Zimmer, ihr Bälge", spuckt er vor uns.

"Nein!", bleibt Cam gekonnt ruhig. Innerlich, kann ich sehen, wie sie vor Emotionen explodiert.

"Nein?!", bleibt Papa empört in seinen Schritt stehen, "Hast du...", er packt sie an den Haaren und zieht sie hinter sich her, "...eine SCHEIß AHNUNG, WAS ICH FÜR DIESE FAMLIE TUE?!"

"RENN QUINN, GEH!", konnte sie mir befehlen, bevor Papa sie an den Haaren über die Couch, wie ein Sack Kartoffeln warf.

Schreie und schmerzerfülltes Stöhnen ist zu hören. Ich sitze mit Tränen in den Augen und Angst in den Adern mit Rücken zur Wand. Ich versuche automatisch so ruhig wie nur möglich zu sein, als wäre ich nicht schon längst bemerkt worden.

"EURE MUTTER HAT MICH FÜR DEN DRECKIGEN WICHSER VERLASSEN UND...", er ballt die Fäuste zusammen und ich nutze diese Zeit, um zur Tür zu rennen.

Meine Hand ist am Schloss. Halt, Cam, ich kann sie nicht zurücklassen, Sie hat gesagt, wir gehen zusammen hier raus. Ich zögere nur ein kurzen Augenblick, aber er war zu lang. Durch meine Hand rast plötzlich zermalmender und schneidender Schmerz zugleich, als hätte jemand mit einem großen Hammer draufgeschlagen und sie gleichzeitig mit tausend Messern aufgeschnitten. Ich falle zur Seite und meine Augenlieder werden schwer. Das Geräusch von zerbrechendem Glase, die hundert Scherben und das lose blaue Etikett bestätigen meine erste Befürchtung. Meine mit Glassplitter gesäte Hand pocht und aus zahlreichen Schnitten quillt Blut heraus. Ich sehe wie ein Monster mir näherkommt, wie es seine Lippen bewegt, aber seine Worte werden von Schmerzsignalen übertönt.

Plötzlich schmeißt sich Cam auf den Rücken des Dämons, wie eine übermutige Amazone. Sie ist deutlich unter seiner Gewichtsklasse. So wird sie mit einer Handbewegung auf den Boden geschmettert. Er zerrt sie an den Haaren hinter dem Tresen der Küche, außerhalb meines Sichtfeldes. Mühevoll versuche ich mich aufzurichten, ohne meine verletzte Hand zu belasten. Als ich mit knirschenden Zähnen auf den Beinen gekommen bin, gehe ich langsam zurück, um zu sehen, ob es Cam gut geht.

Ihre Arme und Beine schwingt sie wie verrückt. Sie ringt nach Luft. Das Biest hält sie mit beiden Händen am Hals und drückt sie gegen die Theke. Ich kann nicht hören, was ihr zugebrüllt wird, aber ich muss was tun! Ich muss etwas tun! Sie... Sie wird sonst sterben!

Ihre Augen landen bei mir und ihre Worte kann ich glasklar aufnehmen.

"GEH ENDLICH! VERSCHWINDE DOCH!", konnte sie den Griff um ihren Hals kurz lockern, um mich wegzuschicken.

Nein, ich kann doch nicht.... nein... NEIN... aber was soll ich tun?!

Ihr Körper wird schwach, als sie dem Monster mit letzter Kraft einen kleinen metallischen Behälter vor der Brust hält. Der Deckel sprang auf und sie dreht an einem winzigen Rädchen. Der kleine Funke verbreitete sich in nur einem Wimpernschlag über seiner nassen Kleidung zu einem Flammenmeer, das rasch das gesamte Zimmer zu überschwemmen drohte. Cams Kleidung fängt ebenfalls an zu brennen. Mir drängt sich Rauch in der Lunge und zwingt mich zu husten. Wenn ich nicht sofort verschwinde, wird dieser Infernokäfig uns beide verschlingen. Ich renne so schnell mich meine Beine tragen können aus der Wohnung. Panik ließ kein klarer Gedanke zu. 

Blutig Blaues MaiglöckchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt