"Wie lange denn noch?", beschwert sich Phil, der mir mit wenigen Metern Abstand folgt.
Er hat mir versichert, er sei zum selber Laufen in der Lage. Wir sind seit Stunden auf den Beinen, folgen den Schritten eines Fremden, in der Hoffnung er könne uns helfen und langsam bricht die Abenddämmerung ein. Die Vögel zwitschern schon länger nicht mehr und die vertraute Nachtkälte weht zusammen mit dem Wind zwischen den Bäumen.
"Weiß nicht", antworte ich ihm, ein Zweig von meinem Gesicht wegdrückend.
Unsere Nahrungsvorräte sind alle und die Wasserflasche, die ich in meinen Rucksack aufbewahre ist leer. Verdammt, werden wir wirklich an Nahrung und Wasser scheitern, wie es Bill gesagt hat? Nein, das lasse ich nicht zu! Sollte es hart auf hart kommen, dann essen wir Baumrinde. Ich habe mal gehört, das machen Hirsche und Rehe, wenn sie nichts anderes finden. Wieso sollten wir das nicht auch können? Wir brauchen außerdem eine Unterkunft, ein Dach über dem Kopf. Ich denke nicht, dass es hier Wölfe gibt, aber wenn wir einen im Freien begegnen, wäre es schon zu spät.
"Wohin gehen wir überhaupt?", fragt er mich.
Nicht zurück, das kann ich dir versprechen! Obwohl Er freiwillig im Glashaus sei und denkt, sein Bruder sei vermisst, folgt er mir, statt zurückzugehen. Ich weiß nicht wieso, aber es erleichtert mich, freut mich sogar ein wenig. Vielleicht, weil das bedeutet, ich habe einmal im Leben das richtige getan, als ich ihn befreit habe? Das lässt meine Brust ein bisschen warm werden. Ich soll wirklich das richtige getan haben?
"Weiß nicht", antworte ich ihm genauso kurz, wie beim ersten Mal.
Es ist wahr. Ich habe keine Vorstellung, wie weit dieses andere Dorf, von dem Bill sprach, noch entfernt ist oder ob wir überhaupt in der korrekten Richtung laufen. Was machen wir, selbst wenn wir eine Ankunft schaffen? Phil in ein Krankenhaus schicken und ich? Soll ich zur Polizei, um Bill zu entlarven? Reichen meine wenigen Beweise den aus?
Die hohen Büsche sind vor uns auf einmal so dicht geworden, dass wir kaum durchsehen können. Ihre Dornen stechen und kratzen an unserer Kleidung als wir uns durchkämpfen. Ich habe meine Hände in meinen Pullover versteckt, aber Phil hat nur ein T-Shirt an, was mir leidtut. Auf der anderen Seite, hier, ist der Boden nur von kurzem weichen Gras bedeckt und das goldene Licht der Abendsonne färbt viele hohe Steinmauern warm. Zahlreich winzige Insekten schweben durch die Luft der kleinen Lichtung, als seien sie aus Staub. Halt... Steinmauern?
"Sind das etwa Häuser?", staunt Phil, der es nun mit Kratzern an den Armen auch durch das Gebüsch geschafft hat.
"Das waren sie mal.", gehe ich den Steinwänden näher, "Aber jetzt sind es nur noch verfallene Ruinen.", stelle ich anhand der größtenteils zerfallenen mauern und das wild verteilte Gerümpel fest.
Ich lasse meine Hand an den Wänden gleiten, während wir ziellos durch die unbefestigten Wege gehen. Kein einziges Haus hat ein Dach, eine Tür oder eine Wand, die vom Moos- oder Pilzbefall verschont geblieben ist. Die Gassen, wenn man sie so nennen kann, sind eng und aus jeder Ecke wachsen Büsche und verschiedene Pilzsorten.
"Quinn sieh mal!", ruft mich Phil, auf einen Bau mit einer halb verfallenen Wand zeigend, "Aus diesem Haus wächst ein Baum.", staunte er.
Es ist schön wie die grünen Blätter des jungen Baumes in der Sonne golden leuchten. Erstaunlich, wie seine Wurzeln durch den mit Ziegelsteinen gekachelten Boden durchgebrochen sind und nun unerschütterlich weiterwachsen werden.
"Die Natur findet immer ihren Weg, schätze ich.", setze ich ein Lächeln auf.
Hinter dem Baum ist der Boden ein Stück höher. Auf der fünf mal drei Quadratmeter großen Fläche sind abgesehen von den Fliegenpilzen in der Ecke die Kacheln noch im guten Zustand.
"Hier können wir doch heute schlafen?", läuft Phil bereits auf der Plattform herum.
"Ja, das ist kein schlechter Ort.", gebe ich zu, "Aber lass uns, uns weiter umschauen.", schlage ich vor, "Wir haben nichts zu essen."
"Aber..."
"Und außerdem...", unterbreche ich ihn, "...ist es seltsam, dass es so viele Häuser in dieses verschollene Ruinendorf gibt, aber kein einziges hat ein Dach oder eine Tür oder ein Fenster."
"Was ist daran seltsam? Es ist sehr alt, da bleiben zum Schluss nur noch die Wände übrig."
"Stimmt schon, aber Glas bleibt mindestens 4000 Jahre bestehen und doch ist hier kein einziger Splitter erhalten. Zudem, hast du dir mal die Fensterlöcher und die Türrahmen angesehen?", frage ich rhetorisch.
"Na... nein", antwortet er trotzdem.
"Es gibt kein einziges Türband oder Fensterdübel an denen man was befestigen könnte."
"Ok, und das heißt was?", wirft er mir verwirrte Blicke zu.
"Diese Häuser hatten nie Türen oder Fenster.", präsentiere ich meine detektivische Erkenntnis.
"Ok nochmal, und das heißt was?"
"Das heißt, dass dieses Dorf extrem alt ist!", sehe ich ihn voller Begeisterung an, abwartend, dass er sich bedankt oder ähnlichem.
"Oh, ist das so?", öffnet er weit die Augen.
"Ja! Da bin ich mir sicher!"
"Ich weiß nicht...", zweifelt er, "für mich ist es eindeutig eine Neubausiedlung.", lacht er unerwartet.
"Was?", bin ich jetzt der Verwirrte.
"Du weißt schon! Mit Wolkenkratzer und alles!", lacht er noch mehr.
"Phil, ich meine es ernst!"
"Ja, ja, da bin ich mir sicher.", winkt er ab.
"Ok du Allwissender, wenn du doch so schlau bist, sage uns doch, wo wir was zu essen finden?", motze ich ihn gespielt an.
"Ehm...", entdeckt er den roten Pilz in der Ecke des Raumes, "...hier! Heute gibt es eine Pilzpfanne. Nur... eben... ohne die Pfanne."
"Der ist giftig, du Idiot. Lass ihn stehn!"
"Das weißt du doch gar nicht!", reißt er ihn vom Boden und schaut sich ihn aus der Nähe an.
"Quinn, ich bin mir sehr sicher, dass dieser Pilz dir im besten Fall Shotgun Durchfall geben wird. Bitte leg ihn wieder weg.", müssen wir beide schmunzeln.
"Aber ich habe so ein Hunger!", beweget er den Pilz langsam zu seinem Mund.
"Quinn?"
Er hört nicht auf mich. Seine Zähne berühren schon den Fruchtkörper des toxischen Wuchses.
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Blutig Blaues Maiglöckchen
Mystery / ThrillerDer 17-jährige Phillipp Qlipper wird von einem Arzt adoptiert, der die Körper seiner Adoptivkinder zu illegaler Medizin verarbeitet. Nun muss er entkommen. Oder doch bleiben und sein Leben für das hundert Fremder aufgeben? Oder für einen einzigen Ve...