Kapitel 10

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Bill und ich lagen bereits seit einigen Minuten seelenruhig auf der dunkelbraunen Couch im Wohnzimmer. Dieser Raum wird von einer einzigen Tischlampe schwach warm beleuchtet. Wir warten mit offenen Bierflaschen, bis seine tolle Serie auf dem großen Bildschirm erscheint. Während wir uns beide in je eine Ecke des Sofas platziert hatten, gönnt sich Maxmell alleine die komplette mittlere Fläche der Couch, aber ich kann ihn schlecht böse sein, er hat einen zu starken Hundeblick, selbst im Schlaf. Jetzt gerade fühlt sich irgendwie alles richtig an. Es fühlt sich an als wären Bill, ich und Maxmell eine Familie, so wie ich sie schon immer haben wollte, aber jemand fehlt. Oscar sollte auch hier sein! Wir würden lachen, bis wir umkippen.

"Da ist es ja endlich!", wirft Bill begeistert seine Hände in die Luft, als er seine Lieblingsserie sieht.

"Prost", sagen wir beide gleichzeitig die Flaschen ansetzend und dann einen großen Schluck herunterdrückend. Mein Gesicht verzieht sich beim ekelhaften Geschmack. Ich hatte vorher noch nie Alkohol getrunken.

"Na, dann bin ich mal gespannt, ob sie wirklich so wahnsinnig toll ist, wie du sagst."

"Das ist sie! Guck, das ist Raven. Sein Schwert ist meistens ziemlich schwach, aber er hat Humor, deswegen ist er noch dabei. Und der große dicke hinten ist Dave. Der ist so fast das Gegenteil zu Raven. Spricht nur Müll, aber seine Schwerter sind extrem gut gemacht.", stellt er mir jeden Teilnehmer des Schmiedewettbewerbes einzeln vor und das voller Begeisterung.

"Oh, Wow....", ich nehme erneut ein Schluck Bier aus der Flasche, eh ich weitersprach, "Und was ist mit den blonden da?"

"Oh, das ist Oliver. Der Mistkerl macht immer nur Stress für die anderen, aber immerhin schmiedet er besser als Raven. Letztes Mal hat er sich Daves Hammer geliehen und danach absichtlich kaputt gemacht, das verdammte Schwein!"

"Klingt als wäre Dave dein Favorit?"

So ging es einige Stunden lang hin und her. Das ist der und das ist jener. Er ist echt vertieft in der Sache, aber mein Geschmack ist sie eher nicht. Ich mag es zwar wie die Schwerter am Ende aussehen, aber das Schmieden selbst ist ziemlich langweilig. Obwohl das hell glühende Metall schon ziemlich cool aussieht, wie flüssige Lava.

"Weißt du...", spricht Bill auf einmal langsam und seine Worte bedacht wählend, während er sein Blick zu seiner mittlerweile dritten leeren Bierflasche senkt.

"Ich habe diese dumme Serie früher immer mit meinem Sohn geguckt.", beendet er den Satz mit einem kurzen unangenehmen Lachen.

"Eigentlich ist das seine Lieblingsserie. Ich habe sie am Anfang so langweilig gefunden, weil sie fast jede Folge das Gleiche schmieden, aber er hat es aus irgendeinem Grunde geliebt", sagt er mit glasigen Augen, was ich nur erkenne, weil er sie sich sofort mit der Handfläche abwischt.

Wow, vergleicht er mich gerade wirklich mit seinem echten Sohn?! Hat er mich wirklich bereits am zweiten Tag so ins Herz geschlossen? Es war schon vorher super angenehm im Raum, aber jetzt fühle ich mich wirklich als ein Teil von etwas. Es fühlt sich so unglaublich gut an. Als ob ein schon lange fehlendes Puzzleteil endlich sein Platz findet und die leere Stelle füllt.

"Magst du mir vielleicht erzählen was passiert ist?", versuche ich mit weicher Stimme, die Leichen aus dem Keller zu locken.

"Sein Name war Tim, mein Timmy war immer ein so glücklicher Junge, immer. Er wollte Polizist werde, die bösen Leute schnappen, weißt du? Was ist den ehrenhafter als das? Ich... Ich habe ihn nie weinen sehen, oder so. Er hat immer so lebhaft draußen mit dem Hund gespielt und er hat sich auch super mit seiner Mutter und mir verstanden, aber dann...". Er hält kurz an und atmet einige Male tief ein und aus, um seine vor Leid brechende Stimme zu bändigen.

"Dann ist meine Frau an Krebs erkrankt und ging von uns. Das hat ihn schwer getroffen und ich habe ihm so oft gesagt, ich sei für ihn da, obwohl ich selber kaum damit umgehen konnte. Ich habe so sehr versucht ihm zu helfen, habe mit ihm geredet und alles. Und dann hat er trotzdem...", erneut musste er pausieren, weil er im Stimmenbruch fiel.

Ich überlege, zu ihm zu gehen, um ihn zu trösten, aber entscheide mich dagegen. Mir ist diese Situation zu unangenehm, denn ich habe noch nie einen älteren Menschen zu kurz vor dem Weinen gesehen.

"Trotzdem passierte mir der größte Albtraum. Ich ging, wie gewohnt nach draußen, um die Blumen zu gießen und habe ihn dort im Glashaus...". Er konnte bei seinen nächsten Gedanken, nicht mehr seine Tränen zurückhalten. Er hatte bereits seine Bierflasche am Tisch abgesetzt und hält sich nun mit den Händen das Gesicht.

"Ich habe ihn im Gewächshaus hängen sehen, meinen kleinen Timmy". Die Mauer ist gerissen und seine Augen werden zu Wasserfällen. Er hat nicht mehr die Kraft, sie zurückzuhalten. Ich bekomme ebenfalls Tränen und mein Brustkorb wird schwerer, alleine vom Zuhören.

Mit sehr gebrochener Stimme führt er fort, eh er sich vollkommen seinem Schmerz überlässt: "Ich bin Arzt, verdammte Scheiße und trotzdem konnte ich meinen eigenen Sohn nicht retten. Was bin ich denn nur für ein scheiß Versager?". Er sieht mit roten, nassen Augen zur Decke hoch in der Hoffnung, das würde den Fluss etwas bremsen, aber das tat es nicht. Sein ganzer Oberkörper zuckte mit jedem Schniefen und ich war bereits auch stark dabei, mir die Augen auszuweinen.

"Das tut mir so leid. Es war nicht deine Schuld", versuche ich ihn vergebens zu beruhigen, obwohl ich den Trost genauso nötig hätte.

"Du bist ein genialer Arzt! Du rettest mit deiner Blume vielen Menschen das Leben da draußen! Das darfst du doch nicht vergessen!"

Es scheint zu wirken. Er gewinnt langsam wieder an Fassung. Genug, um mir tief in den Augen zu schauen und zu fragen: "Und was ist mit dir? Hast du deine Eltern eigenhändig ermordet oder so?". Er schaffte es ein kurzes, sarkastisches Lachen herauszubringen und ich erwidere es.

"Eigentlich...haben sie mich und Oscar nicht gewollt und uns deswegen bei McDonalds stehen gelassen. Ich frage mich, waren wir viel zu hässlich oder zu dumm? Keine Ahnung. Warum waren wir nicht gut genug für Sie? Keine Ahnung. Wieso verdammt haben sie uns alleine gelassen? Keiner hat es verdient, alleine zu sein. KEINER! Verdammt, wir haben doch auch Träume! Oscar will weltberühmter Maler werden und ich... ich schätze ich will Architekt werden, vielleicht?". Nun bin ich es, der den Fluss in den Augen kein bisschen halten kann und etliche Tränen seinen Wangen herunterrollen lässt.

Ich sehe im ohnehin schon dunklen Raum kaum und nun ist er auch noch verschwommen und meine Augen kratzen. Wir füllen beides dieses Zimmer mit so viel Schmerz, dass die Luft schwerer und schwerer wird, bis ich irgendwann bemerke, dass Bill neben dem Hund von jetzt auf gleich eingeschlafen war. Es war nur eine Frage der Zeit bei dem ganzen Alkohol, den er sich eingeführt hatte. Ich nutzte ein paar stille Minuten, um meine Gedanken wenigstens ein Stückchen zu beruhigen und gehe mich schließlich ebenfalls schlafen legen.

Blutig Blaues MaiglöckchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt