Kapitel 1

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"Doch! Und ich werde ihn mitnehmen!", schreit meine Schwester mit den ost-asiatischen Akzent unserer Mutter durch die Wohnung.

"Du bist doch selber noch ein Kind! Du unreife Göre hast doch keine Ahnung, vom Leben!", brüllt Papas tiefe Raucherstimme durch alle Wände.

Hoffentlich hören das die Nachbarn nicht, sonst muss ich wieder der alten Oma Catrin erklären, dass es nicht so schlimm ist, wie es sich anhört. Sie macht sich immer nur Sorgen, obwohl es uns doch gut geht. Die anderen Nachbarn interessieren sich nicht für uns. Ich glaube manchmal sogar, sie ignorieren uns absichtlich.

"Er geht dir doch am Arsch vorbei! Was ist seine Lieblingsfarbe? Sein Lieblingsessen? Wann kommt er von der Schule zurück? Wie alt ist er überhaupt, heh?! ER IST GERADE MAL 12, ABER DAVON HATTEST DU DOCH KEINE VERDAMMTE AHNUNG!"

Geht es etwa um mich? Wir, also ich, ups, Cam sagt immer, man dürfe sich nicht selbst zuerst nennen, also Papa, Cam und ich wohnen zusammen in einer kleinen drei Raum Wohnung unweit vom Stadtkern. Cam und Ich teilen uns das enge Kinderzimmer, schließlich sind wir Geschwister. Papa hat zwar das Schlafzimmer für sich allein, aber er bevorzugt es, in den unbequemsten Posen in irgendeiner Ecke einzuschlafen, keine Ahnung wieso. Um in mein Zimmer zu kommen, muss ich durch das Wohnzimmer, leider. Ich packe den linken Träger meines Ranzens mit meiner linken Hand, sammle meinen Mut zusammen und stupse vorsichtig mit der Rechten die hellgraue Wohnzimmertür auf.

Beide schweigen und sehen überrascht zu mir. Im gesamten Zimmer liegen Klamotten, Zeitungen, leere Alkoholflaschen und Zigarettenschachteln wild verteilt. Papa ist hinter dem kleinen Couchtisch und Cam davor. Das Zimmer ist wie die gesamte Wohnung recht dunkel, da Papa uns verboten hatte die Blenden hoch zu ziehen. Ein Telefon gibt es in seinem Haus erst recht nicht.

"Jetzt", wendet sich Papa wieder meiner Schwester zu, "Er kommt jetzt nach Hause", beendet er mit dem Anfang eines starken Hustenanfalls.

"Oh, Quinn!", kommt sie auf mich zu und umarmt mich stark, "Geh doch in dein Zimmer etwas Musik hören, wie kling das?", sagt sie im sanften Ton und lächelt mich dabei an.

Ich nicke und mache mich zügig auf dem Weg. Es gefällt mir nicht ihr nicht helfen zu können, aber ich vertraue ihr, sie weiß was gut ist. Kurz bevor ich die Tür erreiche meldet sich Papa, durch sein husten hindurch.

"Kleiner... bring mir doch eine Kippe, aus der Küche", bittet er mich, während er sich mit gebeugtem Rücken am Tisch festhält.

Oh man, mein kleiner MP3-Player muss wohl warten. Aus einer Schublade unter der Mikrowelle krame ich eine Zigarette hervor und halte sie nun den großen kahlköpfigen Mann hin. Er zündet sie sich an und besänftigt seine Lunge mit einem tiefen Zug. Der kleine Feuerring des Tabaks brennt rasch ein Drittel der Röhre weg.

"Wo ist der Aschenbecher?"

Ahnungslos schweige ich ihn an.

"Wie oft habe ich dir gesagt, zu einer Zigarette gehört auch ein VERDAMMTER ASCHENBECHER?!", wird er wütender und packt mich am rechten Arm.

Ich beiße die Zähne zusammen und kneife die Augen zu, weil ich weiß was jetzt kommt. Er hat recht, er sagt es jedes Mal und ich vergesse es trotzdem.

Er zieht mit einer Bewegung mein Ärmel bis zur Schulter hoch, "Vielleicht hilft dir das, dich nächstes Mal an den scheiß Becher zu erinnern!"

Kaum gesagt, höre ich schon die Zigarette in meiner Haut zischen. Ich ziehe scharf Luft ein, denn der netzartig brennende Schmerz ist irgendwie schlimmer als den der anderen Male.

"LASS IHN LOS DU, MONSTER!", wirft meine Schwester brüllend ein Kissen nach ihm.

Ich werde mit etwas Schwung losgelassen, sodass ich fast hinfalle. Sofort renne ich mit Tränenflut in meinem Zimmer, knalle die Tür hinter mir zu, vergrabe mich unter meiner Bettdecke und suche wild unter dem Kissen, nach meinem MP3-Player. Er ist das einzige was ich noch von Mama übrig habe.

Cam stürm auch ins Zimmer, aber sie dreht den Schlüssel und bleibt mit dem Rücken an der Tür stehen. Ich kann nur hören, wie sie schwer atmet und wie Papa ihr irgendwelche bösen Wörter hinterherwirft. Meine Decke wird nach einer Weile leicht angehoben, gerade als ich mein Lieblingslied Counting Stars von OneRepublic durch die Kopfhörer jagen wollte.

"Hey Brudi, kann ich vielleicht mithören?"

Wie könnte ich nein sagen? Ich nicke und reiche ihr einen der Ohrstöpsel. Sie ist schon 18 und wir haben ganze sechs Jahre Unterschied, aber verstehen tun wir uns trotzdem blendend. Mike, ein Freund von mir hat einen zwei Jahre älteren Bruder und die streiten sich andauernd, seltsam.

Wir hören Glas gegen die Tür brechen, Schläge und Tritte.

"Hey, sieh mich an, sieh mich an, Brudi.", ich tue wie Cam verlangt "Scheiß drauf"

Ich muss lächeln.

"Ja, scheiß drauf"

"Genau! Und jetzt lass uns die Sterne zählen!" 

Blutig Blaues MaiglöckchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt