Die Treppe ist mit dem Glas Vodka, auf das ich mich zwischendurch eingelassen hatte, im Blut schwierig zu bewältigen. Ein Presslufthammer springt in meinen Kopf und die Wände drehen sich ein wenig, aber den Weg in mein Zimmer finde ich dennoch. Schlafen gehen, will ich noch nicht. Ich will diese Nacht noch nicht enden lassen, es wäre irgendwie zu abrupt, schließlich kommt doch nach Alkohol eine Glücksphase, angeblich. Der Tisch wird zu meinem Stuhl und so schaue ich aus dem Fenster, meine Knie umarmend. Man kann hinter lauter farblosen Bäumen den dunklen Himmel erkennen. Nur ein paar helle Pünktchen und der im Vergleich zu ihnen große, weiße Mond erhellen die Leere der Nacht. Es ist aber nicht alles grau und düster. Der Horizont liefert über den Baumkronen und weit darüber hinaus ein Spektakel aus dunkelblauen und lila Tönen. Aber meine Aufmerksamkeit kann ich nicht von einer bestimmten Stelle befreien, das Gewächshaus.
Es wirft einen Schatten, wie die Bäume auch, in Richtung Haus und zu hören sind nur leise raschelnde Blätter und Grillenkonzerte. Bei solch ein ruhigen und einsamen Anblick kommt es mir so absurd vor, dass etwas oder jemand dort drinnen sein könnte und obendrauf, mich ansehe, als möge es mich töten wollen. Ich habe mir das gestern nur eingebildet! Ja, so muss es sein, einfach eine Illusion aus Müdigkeit oder so. Man sieht ja bekanntlich im Dunklen alle möglichen Formen und Dinge, die man sehen will. Ich glaube, ich habe in einem Buch gestern den Namen "Pareidolie" gelesen, was das Phänomen sei, in Dingen und Mustern vermeintliche Gesichter und vertraute Wesen, oder Gegenstände zu erkennen. Das muss es sein, einfach ein dummer Streich, den mir mein Gehirn spielt. Aber Bill hat gesagt, sein Sohn hätte sich darin erhängt. Vielleicht hängt das... nein, Schwachsinn.
Als ich diese Gedanken formuliere, bleiben mir plötzlich etliche Herzschläge aus und ich spüre wie meine Augen schlagartig sich weiten. Die dunkle Gestalt erhebt sich langsam aus ihrem Schlaf und ist deutlich dort zu erkennen. Ich bin mir sicher, es ist keine Einbildung. Erneut diese Finsternis hinter dem Glas, sie schaut sich um. Als sie meine Augen trifft, fühlt es sich an, als hätte jemand mit einem Gewehr nach mir geschossen.
Vor Schrecken kippe ich nach hinten und reiße den Tisch laut knallend mit mir zu Boden. Ein starker Schmerz durchzieht meinen gesamten Körper und lässt vor allem mein Rücken brennen. Zum Glück ist mir der Tisch nicht auf das Bein oder sonst wo gefallen. Gott, das habe ich davon, mich nicht wie jeder normale Mensch auf Stühle zu setzten. Langsam, eine schmerzvolle Bewegung nach der anderen, versuche ich mich wiederaufzurichten, aber bereits bei der ersten Handplatzierung kommt eine Überraschung. Auf dem Boden geht meine Hand ein wenig unter, weil sich die Laminatplanke von der anderen Seite hebt. Mein Schmerz wurde fast vollständig von Angst vor dem Neuen und ein Hauch von Neugier überschrieben. Ich könnte die Planke abmachen, aber ich zweifle, ob ich wissen will, was hier drunter ist oder es herauszufinden den Geist im Gewächshaus noch mehr verärgern würde. Mit voller Vorsicht hebe ich die Planke ein wenig, um nur einen kurzen Blick darunter zu werfen. Dort ist ein sehr dunkelbraunes Buch, nichts weiter.
Ich lege das Holz zur Seite und nehme das Buch mit Samthandschuhen heraus. Ich wage es nicht einmal den Staub vom dünnen Ledereinband wegzupusten.
Das Buch fällt mir vor Schock aus den Händen und knallt sich auf den Boden wieder zu. Ich gehe ein paar Schritte mit meinem laut pumpenden Herz zurück und schaue ungläubig auf was ich gerade gelesen habe. Der Raum wurde auf einmal extrem kleiner, als ob die Wände mich gleich erwürgen würden. Das gibt es nicht. Nein, das werde ich nicht lesen, egal was. Das geht mich nichts an, definitiv nicht. Es ist nicht meine Angelegenheit, selbst wenn das Wesen hinter dem Glas es zu dieser machen will. Ich habe nichts damit zu tun, okay!
5. Dezember 2015
Geschichten aus meinen Leben, an die ich mich erinnern will
Tim Crimson
Tagebuch
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Blutig Blaues Maiglöckchen
Mystery / ThrillerDer 17-jährige Phillipp Qlipper wird von einem Arzt adoptiert, der die Körper seiner Adoptivkinder zu illegaler Medizin verarbeitet. Nun muss er entkommen. Oder doch bleiben und sein Leben für das hundert Fremder aufgeben? Oder für einen einzigen Ve...