Die großen Bäume durchbrechen den dicken und feuchten Moosteppich, während einige Vögel weit entfernt zwitschern. Es duftet genau wie die billigen Wunderbaum Lufterfrischer im Auto nach Kiefer, nur viel stärker. Ich setze ihn vorsichtig gegen einen großen Baumstumpf ab und halte ihn mit beiden Händen an den Schultern davor ab umzukippen. Er gewinnt langsam an Farbe und Energie zurück, sehr langsam.
"Ja? Hey hey nicht einschlafen!", schlage ich leicht auf seine rechte Wange, weil seine Augenlieder immer weiter fallen.
"Quinn? Was ist mit deinem Ohr passiert?", scheitert er ein Lächeln zu erzwingen.
"Was ist mit deinem Zahn passiert?", lächle ich.
"Wo... Wo bin ich? Was... Was tust du hier?", wirft er mir einen kurzen Blick zu, eh er wieder auf dem Boden sieht.
"Was ich hier tue?", nehme ich verwirrt etwas Abstand, "Was tust DU hier? Warum warst du im Gewächshaus?"
"Ich... da waren diese... großen Wurzeln überall. Sie...", hebt er langsam seine Ärmel hoch, "...haben sich einfach..."
"Schon gut", schneide ich ihm das Wort ab, als das Tageslicht die Schandtaten offenlegt.
Es sind schwarz-blaue Punkte, in Wirklichkeit winzige Löcher überall an seinen Armen. Wie dichte Sommersprossen mustern sie seine blasse Haut. Ich ziehe scharf Luft ein und strecke die Hand aus, vorsichtig abwartend, ob er meine Berührung zulässt. Das tut er. Ich glaube er ist zu erschöpft, sich gegen überhaupt etwas zu wehren. Die Punkte sind verglichen zu seiner weichen Haut rau.
"Das tut mir so unglaublich leid.", gestehe ich ihm, während meine Finger über seine Haut gleiten.
"Was denn?"
"Das du das durchmachen musstest! Ich hätte dich da viel früher rausholen sollen! Er wird bezahlen, für was er dir angetan hat!", schwöre ich mit geschlossener Faust auf dem Boden schlagend.
"Aber Quinn ich...", spricht er sehr langsam, während er darum kämpft nicht wieder in Ohnmacht zu fallen, "...ich war freiwillig dort drin."
"Wa? Wieso? Wa... Den Phillipp den ich kenne, hätte das nie gesagt! Den Phillipp den ich kenne, hätte alles gegeben, um vor allem für sein Bruder am Leben zu bleiben!"
Ist er überhaupt noch bei klarem Verstand? Schließlich war das Bills Sohn nach dem Verlassen des Glashauses auch nicht mehr. We... werde ich Phillipp auch töten müssen, weil er verrückt geworden ist, so wie Bills sein Sohn?
"Sag mir doch bitte...", beginnt Phil, "...wie viele habe ich bereits gerettet?"
"Darum geht es dir also.", atme ich verstehend aus, "Du und deine dämliche selbstlose Art.", klopfe ich stumm auf den Boden, "Doch! Das ist sogar genau, was du tun würdest!"
"Außerdem war Oscar doch mit mir im Haus. Wir haben beide geholfen.", spricht er langsam.
Schuld legt sich auf meinen Schultern beim Klang seines Namens. Ich hätte, ich sollte, ich müsste.... Ein lautes Magenknurren unterbricht meine lauten Gedanken. Ich reiche Phil eine grüne handvollgroße Kugel, die auf einen hohen Pflanzenstängel unweit von hier gewachsen war. Sie sind essbar, deshalb hatte ich ein paar auf dem Weg mitgenommen, nur habe ich vergessen, wie sie heißen. Der milchig weiße Saft darin tropft heraus, als seine Zähne die Frucht durchbohren. Ich tue es Phil mit einer der flaumigen Kugeln, die ich in meinen Rucksack verstaut hatte, gleich. Sie schmeckt süß mit sehr bitterem Nachgeschmack und ihre Struktur ähnelt einer Tomate.
Ich mustere Phil von unten bis oben, solange er gierig die Pflanze verschlingt. Was soll ich jetzt machen? Ihn zurückbringen? Er wollte doch nie hier sein. Ihn trotzdem weiterschleppen, weil die Wurzeln irgendwas in sein Gehirn beschädigt haben könnten? Fakt ist, dass er unterernährt, mit narben bedeckt und körperlich sehr schwach ist.
"Quinn..."
"Ja?", schaue ich weg, als hätte er mich bei etwas Peinlichem erwischt.
"...wo ist Oscar?"
Mein Gesicht wurde schlagartig taub. Meine Existenz zieht sich auf einen Punkt in meinen Bauch zusammen.
"Ich...", ich schlucke, sehe mich zuckend um, hoffend spontan eine Antwort zu finden, doch Bäume, Gras und Erde sind keine, "...ich weiß es nicht. Du warst der einzige im Keller.", färbt sich meine Weste noch schwarzer.
Stille.
Sein Körper kippt erschöpft nach vorn, kippt in den Schlaf. Er braucht medizinische Hilfe, aber nicht Bills. Ich nehme ihn an der Schulter und ziehe ihn mit mir hoch, danach erste Schritte setzend. Das Moos ist an einigen Stellen stärker eingedrückt als an anderen. Sie haben die Form von Fußabdrücken, menschlichen Fußabdrücken und bilden eine Zickzacklinie in den dichter und dunkler werdenden Wald. Wir sind nicht allein! Wir müssen weiter!
DU LIEST GERADE
Blutig Blaues Maiglöckchen
Misterio / SuspensoDer 17-jährige Phillipp Qlipper wird von einem Arzt adoptiert, der die Körper seiner Adoptivkinder zu illegaler Medizin verarbeitet. Nun muss er entkommen. Oder doch bleiben und sein Leben für das hundert Fremder aufgeben? Oder für einen einzigen Ve...