Kapitel 18

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Der Himmel ist heute Abend reichlich mit Sternen gesät. Ihr Licht findet schwer den Weg zwischen den dichten Baumkronen, um die kleine dünne Straße vor uns zu auszuleuchten. Eine Frauenstimme aus dem Radio spricht die Nachrichten ab, während ich aber eher den lauten Grillen draußen zu lauschen versuche. Diese Fahrt ist lang, sehr lang. Und wir machen sie nun zum dritten Mal aber dieses Mal werde ich sie verschlafen, denke ich. Dad und ich haben schon länger nichts gesagt. Er hat seine Augenbrauen nach vorn konzentriert zusammengezogen. Was auch immer sich für Gedanken in seinen Kopf zusammenspinnen, ich will sie nicht unterbrechen.

Viele dichte Baumstämme reflektieren, das helle Licht der Autoscheinwerfer. Einer, weit entfernt, fängt mein Blick. Kleiner und runder, als die anderen mit vielen Details. Zweige und herausragende Wurzeln als seien es jemandes Arme und Beine. Er kommt näher. Seine Blätter winden sich um ihn, als seien es jemandes Klamotten und Hut. Er kommt näher.

Ich springe auf, meine Hand und Augen an die Scheibe geklebt, starre ich auf die Figur. Sie fliegt an uns vorbei. Hinter unserem Auto am Straßenrand sind nur Baumstämme.

"Was ist los, Phil?", fragt mich Dad.

"Nichts, ich dachte nur, ich hätte jemand gesehen. War nur ein Baum.", sacke ich in meinen Sitz ein.

"Ja", glaubt er mir, "Wir sind gleich da."

"Gut"

Meine Augenlieder fallen langsam, als wir bei der Lichtung ankommen, auf jener unser Haus gebaut ist. Das laute Konzert der Grillen begrüßt uns, als wir aussteigen. Es liegt ein leichter Duft von Minze in der Luft, auch wenn ich nicht weiß woher er kommen mag. Eine Streckung aller vier Gliedmaßen und ein tiefes Gähnen kann ich nicht unterdrücken. Dad wartet nicht auf mich. Er läuft bereits zum Haus, sein Schlüssel in den Hosentaschen seiner blauen Jeans suchend.

Beim Vorbeigehen sehe ich, wie im grünen Gras ein paar blaue Blumen gewachsen sind, aber sonst hat sich seit unserer Abfahrt nichts geändert. Die blauen Flecken stechen so wunderschön heraus, dass ich sie gar nicht hätte übersehen können. Ich beuge mich, um einen aus der Nähe zu betrachten und identifiziere ein hellblaues Maiglöckchen. Es wird zum Ende der Blüte hin leicht orange mit einer weißen Grenze vorher. Das ist also, Dads Heilmittel. Es ist wunderschön. Zu schade um gepflöckt zu werden.

Ich stehe wieder auf und scanne kurz alle Richtungen nach Maxmell ab, aber erkenne ihn nirgendwo. Wir hatten ihn rausgelassen, damit er nicht im Haus sein Geschäft verrichtet solange wir nicht da waren. Vor dem kalten Wind, der heute Abend herrscht sollte er aber jetzt Zuhause Schutz suchen.

"Kleiner, wo bist du?", rufe ich durch den Garten in der Hoffnung, dass er schwanzwedelnd glücklich zu mir gerannt kommt, aber das geschieht nicht.

Mir fällt aber auf, dass die Blumen um das verstaubte Gewächshaus viel dichter gewachsen sind. Sie sind wie ein blauer Gürtel drumherum. Ich laufe ein paar Schritte näher heran und rufe unsicher nach Maxmell, aber ich selbst konnte mich wegen den lauten Windböen kaum hören. Mir fällt etwas an der rechten unteren Ecke des Hauses auf. Es ist an der Stelle kaputt und eine dicke dunkelgrüne Wurzel ragt heraus, die sich danach sofort in die Erde gräbt. Ich lege mich auf der Erde, mein Ohr an der Wurzel und meine Augen an der winzigen Lücke zwischen Wurzel und Glas, aber sehen tue ich nichts. Nur ein Geflecht aus noch mehr Wurzeln.

Mein Herz rutsch mir in den Hals. Ein Atem. Ein langsamer, gebrochener, tiefer, menschlicher Atem aus der Wurzel löst in mir das Fürchten aus. Ich entferne mein Gesicht langsam von der Wurzel, aber fühle mich noch weniger sicher, als ich die Verbindung herstelle, dass diese Wurzel mit allen Blumen, die mich umgeben verbunden ist. Dieses Ding atmet. Das ist keine Pflanze. Was zum Teufel ist das? Wo ist Maxmell?

Ich stehe mit gebeugten Rücken und gekreuzten Armen auf. Ich muss ihn finden, das ist jetzt wichtig. Langsam diese Wurzel nicht aus den Augen verlierend wage ich, trotz verrücktspielenden Nerven einige Schritte um das Haus herum.

"Fuck, MAXMELL!", schreit schmerzvoll meine Seele, Maxmell vor mir leblos liegen gesehen. Meine Angst hat sich schlagartig verdoppelt, aber nicht länger ist sie um mich. Ich renne, so schnell ich kann zu ihm und werfe mich auf die Knie. Meine Augen werden glasig, während ich ihn im Arm nehme. Jede Sekunde mit Maxmell so in den Armen ist wie ein Messer in mir, was nur noch tiefer gedrückt wird. Er hat Blau um den Mund und ein Bündel Blumen in der Nähe fehlen die Blüten. Ein tiefer Atemzug lässt vollkommen alle Tränen herausbrechen.

"DAAAAAAAAAAAAAAAAD, hilf mir!", schreie ich zum Himmel hoch mit letzter Kraft, eh ich unbeholfen Maxmell an meiner Brust presse. 

Blutig Blaues MaiglöckchenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt