Einfach nur weg

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Lillys p.o.v.

Ich schob mich durch die Massen an Schülern in der Aula Richtung Ausgang. Doch trotz zahlreichen Ellbogeneinsatz kam ich nur stockend voran.
Die ganze Zeit hatte ich mit der Panik zu kämpfen. Die Wände schienen auf mich zuzukommen. Die Luft so stickig, dass ich keinen Sauerstoff mehr in die Lunge bekam.
Mein Herz schlug so schnell, dass ich meinte, es im ganzen Körper zu spüren. Doch da war kein Sauerstoff, den es durch meine Adern pumpen konnte. Ich erstickte hier, ich musste weg!

Da fiel mir ein, was mir mein Therapeut gesagt hatte:
Ich sollte mir einen inneren sicheren Ort vorstellen.
Um diesen schneller abzurufen, sollte man ihn sich sehr oft vorstellen, was ich zugegebenermaßen nicht ganz so eifrig getan hatte.
Vielleicht fiel es mir deshalb so schwer, mir diese eine Stelle im Wald, diese Lichtung vorzustellen, und die Gefühle, die damit zusammenhingen, zu empfinden: Ruhe, Entspannung, Sicherheit.
Der Geruch der Kiefern, des Harzes und der Pflanzen im Wald, der vielen Tiere, die herumwuselten, das alles hatte ich für einen Moment in der Nase, doch dann....war es wieder weg, entflutschte mir geradezu wie ein nasser Fisch aus den Händen.

Schließlich schaffte ich es schwer atmend aus der Aula, die verblüfften und neugierigen Blicken der Schüler um mich herum nahm ich kaum wahr, zu sehr dröhnten mir die Gedanken im Kopf wie zu laute Lautsprecher.

Ich werde ihn nie akzeptieren können, bin zu schwach.
Hab ihn nicht verdient.
Zu kaputt, zu feige...
Ist zu gut für mich...
Tue ihm nur weh...
Kann nicht lieben...

Es war, als wollte ich vor diesen Gedanken, diesen schmerzenden und doch so wahren Gedanken in mir fliehen.
Zwar wusste ich irgendwo im tiefsten Inneren, dass es nirgends einen Ort gab, wo ich diese Gedanken nicht haben könnte, und doch rannte ich davor weg.
Es war dumm, aber ich konnte einfach nicht anders.
Letztendlich blieb ich wohl für immer ein Feigling.
Und so jemanden wie mich hatte Ben nicht verdient. Er verdiente jemand besseren.
Aber das konnte ich nicht für ihn sein.

Und so rannte ich an den Schülern vor der Aula vorbei, rannte aus der Schule, zum Wald, als würde er mir Sicherheit versprechen können.
Aber auch er konnte mich nicht vor mir selbst retten, vor den Dämonen in meinem Herzen, die sich hartnäckig in mein Fleisch krallten.
Sie würden nie loslassen, und ich würde mich nie von ihnen befreien können.

Keuchend stolperte ich in den Wald, atmete die frische Luft ein, die vielen Gerüche, die mich sonst immer beruhigten.
Dieses Mal schafften sie es nicht, dieses Mal war das Chaos in mir zu groß, es überwog alles andere.
Und ich konnte mir nichts mehr vormachen, das würde es immer tun.

Ich hatte es ja versucht, aber ich war gescheitert.
Jedes andere Mädchen hätte Ben geliebt, hätte ihn geküsst für diesen Song, für seine Liebe, aber ich...
Ich konnte dieses Mädchen nicht sein, so sehr ich es mir auch für Ben wünschte, so sehr er es auch verdiente.
Meine Vergangenheit würde mich immer heimsuchen. Ich war nicht für die Liebe geschaffen, nein, ich war bloße Zerstörung.
Ich konnte nicht zulassen, dass Ben Opfer davon wurde.

Immer tiefer stolperte ich in den Wald, anders als sonst nicht mehr so trittsicher, als würden mich nun auch meine wölfischen Instinkte im Stich lassen.
Aber vielleicht wäre es ganz gut, wenn ich über einen Ast stolperte und mir das Genick brach.
Vielleicht hätte ich es nach meinem missglückten Versuch nochmal wagen müssen.
Vielleicht wäre mein Tod ja wirklich die beste Lösung.

Als ich durch einen besonders dichten Strauch fiel und mit den Knien auf den Boden krachte, blieb ich einfach in dieser Haltung.
Bis plötzlich ein Zweig knarrte.
Aufgeschreckt blickte ich hoch.
Und direkt in die Augen eines Wolfes. Nein, eines Werwolfes.
Und neben ihm stand noch einer.
Beide sahen mich überrascht und ängstlich an.

Diese Angst... Sie hatten Angst vor mir. Und warum auch nicht?
Schließlich war ich ein Monster.
Und würde nie etwas anderes sein.

Bens p.o.v.

Sie rannte weg. Warum rannte sie weg? Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber ganz bestimmt nicht, dass sie die Flucht vor mir ergriff.
Dieser Song....das war unsere Geschichte. Ein Liebessong und gleichzeitig ein Wunsch, eine Frage:
Will you ever accept me?
Wirst du mich jemals akzeptieren?

Und als sie dann davon rannte, da wurde etwas in mir ganz hart und kalt.
War das ihre Antwort?
Wollte sie mir damit sagen, dass sie mich nie würde akzeptieren können?

Für einen Moment stand ich wie der letzte Depp da auf der Bühne, geschockt, während die Leute unten jubelten und applaudierten.
Was für eine Ironie.
Als würden sie mir dafür applaudieren, wie erfolgreich ich Lilly verscheucht hatte.
Vielleicht gab es wirklich keine Hoffnung mehr für uns?

Aber in letzter Zeit ist doch alles so gut gelaufen...ich hatte wirklich gedacht...
Aber offenbar hatte ich mal wieder falsch gelegen.
Ich schluckte schwer, wusste nicht, was ich tun sollte, alles in mir war so taub, so leer...

"Hör endlich auf, so dumm dazustehen und komm mit", riss mich da eine genervte Stimme aus meinen Gedanken.
Ruckartig drehte ich den Kopf und sah Damien mit grimmigen Gesichtsausdruck neben mir stehen.
"Wir müssen ihr hinterher. Wer weiß, was sie sonst noch tun wird."

Zuerst verstand ich seine Worte nicht, verstand nicht, worauf er da anspielte, doch dann....
Sie hatte einen Suizidversuch gewagt. Wer garantierte mir, dass sie es nicht noch einmal tat?
Zwar machte sie eine Therapie, aber das war kein Wundermittel.
Es war ein langer Prozess, mit vielen Rückschlägen.

Bei dem Gedanken, dass ich sie verlieren konnte, weil ich zu geschockt war...
Das riss mich aus meiner Trance.
Schnell war ich an Damien vorbei, wollte ihr durch die Menschenmenge hinterher......

"Stopp", Damien riss mich am Arm zurück und schob mich in die andere Richtung.
"Durch den Notausgang sind wir schneller."

Zusammen gingen wir aus der Tür, dann zum Haupteingang, und nahmen Lillys Geruch auf.
Und dann rannten wir los.
In mir herrschte noch immer Chaos, und allein der Gedanke, dass es diesmal zu spät sein konnte, ließ mich so weit fokussieren, dass ich Lillys Fährte folgen konnte.
Und doch war ich noch ganz verwirrt. Wenn Damien nicht wäre...
Ich wollte ihm nicht dankbar sein.
Aber wenn er mir half, Lilly zu retten...

Er würde etwas gut bei mir haben. Und das war noch weit untertrieben.

Zusammen preschten wir in den Wald, immer Lillys Geruch hinterher.
Sie schien blindlings losgelaufen zu sein, zumindest führte ihr Weg weder nach Hause noch sonst zu einem sicheren Ort, sondern geradewegs tiefer in den Wald hinein.
Die Angst schien mein Herz in einen Klammergriff zu nehmen.
Wir durften nicht zu spät kommen. Bitte nicht, bitte...
Sie war mein Leben.
Ich konnte nicht ohne sie sein.
Das würde ich nicht ertragen, es würde mich umbringen.

Auf einmal kam mir der Wald gar nicht mehr so friedlich und lebhaft vor, sondern dunkel und düster.
Als würden die Bäume um mich herum ein finsteres Geheimnis wissen und mich und Lilly in unser Unglück hineinlaufen lassen.
Diese Vorstellung entsprach höchstwahrscheinlich nur meiner Angst und doch machte es dieses Wissen nicht besser.

Plötzlich hörten wir keine zehn Meter vor uns einen Laut, der mir ins Herz schnitt.
Ein langgezogenes, von Qual zerrissenes Jaulen ertönte.
Keuchend legten Damien und ich noch einen Zahn zu. Dann brauchen wir durch Gestrüpp auf eine Lichtung.
Der Atem blieb mir im Halse stecken.

Vor uns saß Lilly auf dem Boden, mit dem Rücken zu uns und ihr Gegenüber....
Da war ein Wolf,  der auf dem Boden lag, als hätte er Schmerzen...aber ich konnte nichts erkennen, da war kein Blut und auch keine hervorstehenden Knochen...

Mein Blick glitt zu einem anderen, kleineren Wolf daneben...er schien starr zu sein vor Schock.
Und dann kam auf einmal ein größerer Wolf uns gegenüber auf die Lichtung geprescht, mit vor Zorn funkelndem Blick.

Ich verstand nicht, was hier vorging. Was war mit diesem nun vor Schmerz und Pein winselndem Wolf?
Wieder glitt mein Blick zu Lilly. Wenigstens ging es ihr gut.
Wenigstens...

Doch da erkannte ich, dass sie eine Hand gehoben hatte und den Blick auf den vor Schmerz winselnden Wolf gerichtet hielt.

Mein Kopf konnte diese Geste nicht verarbeiten, da stürzte sich schon der zornige Wolf auf meine Mate.

I wanna be free, MateWo Geschichten leben. Entdecke jetzt