Aufheiterung

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Olivias p.o.v.

Ich konnte nicht anders, ich umarmte Lilly mitfühlend von der Seite.
Überrascht zuckte sie zusammen, schüttelte mich aber nicht ab.
Tatsächlich drehte sie sich nach einer Zeit sogar um und erwiderte die Umarmung.

Eine Weile saßen wir einfach nur so da, während noch der Fernseher lief.
Ich weiß nicht, wie es Lilly ging, aber die Töne vom Fernseher gingen komplett an mir vorbei.
Später hätte ich nicht mehr sagen können, um was es ging, was alles passiert war.

Die Worte von Lilly spukten in meinem Kopf umher.
Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte.
Die Zeiten, in denen ich Lilly für eine kaltherzige Bitch gehalten hatte, waren nun endgültig vorbei.
Nie, nicht auch nur im Entferntesten, hätte ich mir ausmalen können, was mit ihr passiert war, das sie zu der gemacht hatte, die sie war.

Es war erstaunlich, dass sie das alles so lange für sich behalten hatte.
Dass sie das alles ertragen hatte, ohne das Messer anzusetzen.
Und jetzt hatte sie es sogar geschafft, darüber zu reden.
Ich war froh darum. Hoffte, es ging ihr jetzt besser.
Zusammen würden wir es schaffen, dass sie die Dämonen ihrer Vergangenheit besiegte.
Auch wenn ich noch nicht genau wusste, wie, so wusste ich doch, dass ich fest entschlossen war, ihr zu helfen.

Mir war klar, sie hatte mir nicht alles erzählt. Sie war nicht ins Detail gegangen, als sie davon erzählt hatte, wie sie ihre Rudelmitglieder gefoltert hatte.
Sie hatte nicht gesagt, was für eine Gabe sie besaß.

Doch es war schon erstaunlich genug, dass sie überhaupt gesprochen hatte.
Dass es sehr schwer gewesen war, hatte ich an den vielen Pausen bemerkt, die sich manchmal eine Ewigkeit lang zogen.
Ich hatte es an der Anspannung in ihren Schultern gemerkt.
An dem Ballen der Fäuste.
Einmal hatte sie ihre Fingernägel so stark in ihr Fleisch getrieben, dass es sogar blutete.
Es war offensichtlich mehr als schwer für sie gewesen, zu sprechen.
Sprechen ist leicht, wenn es einfache Themen sind. Doch über Themen zu sprechen, die sehr persönlich, sehr emotional beladen sind - so wie etwa die Vergangenheit - ist schwer. Das erfordert enormen Mut.

Doch trotzdem hatte sie es getan.
Was auch immer der Auslöser gewesen war - die Sache mit Ben gestern, die Entführung - es spielte keine Rolle.
Wichtig war, dass sie den Mut gefunden hatte, der tief in ihr schlummerte.
Ich mochte Lilly für eine Bitch gehalten haben und doch hatte ich schon bei unserem ersten Aufeinandertreffen etwas erkannt: sie war die taffste Person, die ich kannte.
Sie mochte es vielleicht als eine Fassade abstempeln, aber das war es nicht.
Ich hatte den Mut, den Kampfeswillen und den Stolz schon beim ersten Mal in ihren blauen Augen funkeln gesehen. Und diese Eigenschaften waren echt.

Auch wenn sie es selbst nicht sehen konnte, so sah ich es doch: ihren Mut, sich nicht vom Leben unterkriegen zu lassen. Sie hatte nicht den Glauben an die Welt verloren und sich von ihr verabschiedet.
Sie hatte weitergekämpft. Hatte all den Schmerz ertragen, war abgehauen und hatte weiterhin gekämpft. Gekämpft für ihre Liebe, für Ben.
Ich war sicher, sie hätte auch gesiegt, wenn sie nicht eins vergessen hätte.
Die Vergangenheit ist ein Teil der Persönlichkeit. Sie macht uns unter anderem zu der Person, die wir sind.
Und dagegen, gegen sich selbst anzukämpfen, bringt nichts.
Man wird nie siegen können.
Und selbst wenn, dann zerstört man sich nur.
Es geht doch vielmehr darum, sich selbst zu akzeptieren, mit all seinen Macken. Sich selbst zu lieben.

Ich hatte auch lange Zeit nicht wahrhaben wollen, dass ich starb. Hatte dagegen angekämpft, mich gewehrt, aber es hatte nichts gebracht.
Ich hatte meinen Körper, mich selbst verflucht.
Ohne dass es etwas gebracht hätte.
Irgendwann war mir dann klar geworden, dass ich meine Zeit lieber damit verbringen sollte, mein restliches Leben zu genießen.
Allerdings ohne jemanden Schaden zuzufügen.
Ich hätte mein Leben nie auf Kosten eines anderen genießen wollen.
Deswegen hatte ich mich schließlich auch von Alessandro fernhalten wollen.

Es kam mir gar nicht so lang vor, da war der Film schon zu Ende.
Schweigend lösten wir uns aus der Umarmung und sahen den Abspann an.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Sollte ich überhaupt etwas sagen?
Ich war zuvor noch nie in einer solchen Situation gewesen.
Was war das richtige Verhalten? Gab es überhaupt ein richtiges Verhalten?
Alles, was sie erzählt hatte, hatte mich so dermaßen erschlagen....
Wie konnte ich ihr nur helfen?

Ich dachte nach. Wenn ich an ihrer Stelle wäre, was würde ich wollen?
Es dauerte nicht lange, da wurde mir eins klar: wäre ich an ihrer Stelle, würde ich auf keinen Fall Mitleid wollen.
Ich weiß nicht, warum, aber ich konnte Mitleid nicht ausstehen.
Als ich noch krank war, hatten mich alle mit diesem mitleidigen Blick angesehen.
Meiner Meinung nach schrecklich.
Lilly musste es bestimmt genauso gehen, oder?

Hm, also wenn ja, dann hatte ich schon Mal richtig verkackt.
Ich hatte sie nämlich mitleidig angesehen.
Aber gut, daran konnte ich jetzt nichts mehr ändern. Allerdings konnte ich es jetzt ja anders machen.

Als würden wir einen ganz normalen Tag zusammen verbringen und als hätte sie mir nicht gerade ihre Lebensgeschichte erzählt, fragte ich:
"Was ist deine Lieblingsmusik?"

"Was?", verwirrt sah Lilly mich an, als hätte ich sie aus tiefen Gedanken gerissen.
Vielleicht war es auch so.
Ihr mussten bestimmt noch die Bilder, die sie durch das Sprechen über ihr Vergangenheit heraufbeschworen hatte, vor dem inneren Auge hängen.

"Deine Lieblingsmusik.", wiederholte ich.

Sie blinzelte nur.
"Achso.", sagte sie dann

Schulterzuckend erwiderte sie: "Ich höre Rock. Am liebsten Linkin Park, Artefuckt, Skillet und auch noch andere."

Okay. Ich hab vielleicht mal von Linkin Park gehört, aber sonst sagte mir das alles kaum was.
Wie auch, ich war so jemand, der am liebsten das hörte, was in den Charts kam.

"Hast du Spotify? Wir können die Musik hören.", schlug ich vor.

Ich hoffte nur, es würde nicht zu schrecklich für meine Ohren werden.
Aber selbst wenn, meine Ohren konnte ich vernachlässigen. Jetzt ging es nicht um sie, sondern um Lilly.

Verwirrt runzelte sie die Stirn.
Okay, vielleicht sollte ich mich erklären.

"Na ja,", fing ich an. "Das war jetzt alles ziemlich schwer, und Musik tut da vielleicht gut, dachte ich mir."

Okay, wow. Dafür würde ich bestimmt als "die beste Erklärerin" ins Guinnessbuch der Rekorde kommen.
Aber bevor ich versuchen konnte, mich weiter zu erklären, ließ Lilly tatsächlich ein kleines schwaches Lächeln aufblitzen und nickte.

"Ich hol mein Handy.", verkündete sie und ging schnell in ihr Zimmer hoch, um ebendies zu tun.
Währenddessen holte ich meinen Laptop aus Alessandros und meinem Zimmer.

Wir trafen uns wieder im Wohnzimmer und Lilly ließ eine ihrer Playlists auf Spotify laufen.
Sofort schallte uns Musik aus dem Handy entgegen.
Hm. Es war etwas anderes, was ich sonst hörte und so super toll fand ich es jetzt auch nicht, aber es war im Rahmen, würde ich sagen.

Während ich meinen Laptop hoch fuhr, sah ich zu Lilly.

"Also.", fing ich an, und übertönte die Musik. Glücklicherweise war sie nicht so laut.
"Wir haben noch Zeit bis Ben kommt. Wir können diese Zeit jetzt entweder genießen und es uns gemütlich machen, einfach quatschen und Musik hören oder irgendwas anderes, was uns einfällt. Wir können aber auch einen Plan anfertigen, was die nächsten Schritte sind. Also, wie wir mit Damien und Ben und deiner Vergangenheit umgehen."

Überrascht blickte Lilly mich an.
Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich ziemlich voranpreschte, ohne sie überhaupt gefragt zu haben, ob das okay für sie war.

Also fügte ich schnell hinzu:
"Natürlich nur, wenn das okay für dich ist."

Sie schluckte schwer. Blinzelte. Ich meinte, ein Glänzen in ihren Augen zu erkennen. Sie kämpfte doch nicht gerade mit den Tränen, oder?
Dann sagte sie leise:
"Das wäre sehr nett von dir, Olivia."

Ich lächelte fröhlich.
Dann legte ich kurz einen Arm um sie und drückte sie herzlich.

"Dafür hat man doch ein Rudel.", erwiderte ich sanft.

Ich tat so, als bemerkte ich den Kampf um die Tränen nicht, den Lilly nun offensichtlich ausübte.
Ich wandte mich einfach an den Laptop und zusammen beugten wir uns über den Bildschirm.

I wanna be free, MateWo Geschichten leben. Entdecke jetzt