Das war unnötiger Schwachsinn!
Sprechstunden. Wer brauchte sowas schon?
Meine Tochter Ella hasste Physik. Und? Kein vernünftiger Mensch konnte Physik leiden!
Ich sollte zu einer gewissen Frau Marina Krämer gehen, damit sie mir wahrscheinlich einen Vortrag darüber halten konnte, dass Ella Nachhilfe in Physik nehmen sollte, nachdem sie in der ersten Schulaufgabe eine glorreiche 6 geschrieben hatte.
Ich kam mir doch sowieso schon wie eine Blockade in dem Leben meiner Tochter vor, nachdem wir von Dubai wieder in das triste Deutschland gezogen sind. Wir sind zwar schon immer oft umgezogen, woran der Job meines Mannes schuld gewesen ist, aber dieser Umzug ins bayrische Nirgendwo war entgültig.
Und jetzt sollte ich ihr auch noch die Leviten lesen, damit sie sich mehr für Physik interessiert, oder was?
Ella hatte schon genug um den Hals. Sie musste mal wieder neue Freunde kennenlernen, mal wieder neue Lehrer aushalten...
Ella, es tat mir so leid.
Mir wurde schlecht, als ich den Gang der Realschule entlanglief. Schließlich war auch ich mal in dieser Schule gewesen. Und jetzt kam ich als alleinstehende Mutter zurück, die wieder neu Fuß fassen musste, die sich und ihre Tochter zusammenhalten musste, bevor sie selbst an der Vergangenheit zerbrach.
Aber das durfte nicht so schnell passieren, da ich nun allein für das Essen am Abend verantwortlich war, nachdem mein Mann... und da wäre auch noch meine alzheimerkranke Mutter, die im Pflegeheim irre viele Probleme bereitete und um die sich mein Bruder nicht mehr kümmern konnte, weil es ihn nach Australien verschlagen hatte.
Florian, dachte ich verbittert, als ich an einem wirklich hässlichen Schülerbild, das der berühmten Mona Lisa ähneln sollte, vorbeilief, ich hoffe ein Krokodil beißt dir da unten in deinen arroganten Arsch!
Schließlich hasste meine Mama mich. Sie hasste mich wirklich, aber immerhin konnte sie sich jetzt nicht mehr darin erinnern. Trotzdem hatte sich ihr wütender und enttäuschter Blick in mein Gedächtnis gebrannt, den sie mir bei der Beerdigung meines Vaters gegeben hatte. Und dieser Blick bereitete mir auch nach 15 Jahre noch Kopfschmerzen.
Du bist Schuld, sagte die Stimme in meinem Kopf, du bist Schuld an dem Selbstmord deines Vaters und - Gratulation - jetzt hast du auch noch deinen Mann auf dem Gewissen!
Ich schüttelte die Stimme aus meinem Kopf, als ich an einer blauen Klassenzimmertür anklopfte auf der die Zahl 145 stand. Hier sollte ich richtig sein.
,,Kommen Sie herein", antwortete eine männliche Stimme.
Verwirrt öffnete ich. Es hieß doch Frau Krämer oder bin ich falsch? Ein Mann stand hinter seinem Pult und las etwas, was auf dem Tisch lag. Ich konnte nur sein Seitenprofil erkennen.
,,Nicht erschrecken. Die Schulleitung hat meinen Namen mit dem einer Biologielehrerin vertauscht", der Physiklehrer sah auf und als sich unsere Blicke begegneten, hatte ich das Gefühl jemand würde einen Kübel Eiswasser über mich schütten.
Das verschmilzte Lächeln des Lehrers entgleiste ihm und er wurde bleich im Gesicht.
Ich schlug mir die Hand vor den Mund und riss meine Augen auf. Wir blieben eine ganze Weile so stehen. Der Physiklehrer meiner Tochter starrte mich an und ich starrte ihn an.
Mein Herz pochte vor Schreck so heftig in meiner Brust, dass ich beinahe Angst hatte, es würde hinausspringen.
,,Hallo, Julia", begrüßte mich Sebastian Bergmanns Stimme kratzig.
Mir fiel das Atmen schwerer und mein Abendessen begann die Speiseröhre hinaufzuwandern.
,,Oh mein Gott!", brachte ich nur heraus und machte einen Schritt zurück, dabei stieß ich mit der Tür zusammen und stolperte fast.
Dann drehte ich mich um und rannte aus dem Schulgebäude. Ich war nie eine gute Sportlerin gewesen, aber dieses Mal war ich meinen Beinen unglaublich dankbar mich so schnell aus dieser verfluchten Realschule gebracht zu haben.
Draußen fasste ich mich am Kopf. Mein schlimmster Alptraum war wahr geworden. Ich hatte Sebastian Bergmann nach unserem Abschluss vor 21 Jahren wieder gesehen. Die Hölle hatte ich wieder gesehen.
,,JULIA!", schrie eine Person hinter mir.
Sebastian war mir hinterher gerannt und stand nun vor den Toren der Schule.
,,Julia", Sebastian bemühte sich ruhig zu bleiben. ,,Was... was machst du hier?"
Ich machte meinen Mund auf, aber da kam nichts raus. Nur ein erstickender Laut der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit.
Vor meinem inneren Auge spielte sich noch einmal jener Abend vor fast zweiundzwanzig Jahren ab. Noch einmal hörte ich den Körper aufschlagen und noch einmal spürte ich Sebastians Hände vor meinem Mund, der mich davon abhielt zu schreien.
Einen Moment lang schloss ich die Augen und atmete tief durch, dann sah ich Sebastian in die Augen und sagte: ,,Fick dich, Sebastian. Fick dich einfach."
Dann beeilte ich mich zu meinem Auto zu kommen. Ich knallte die Tür zu und stützte meine Hände am Lenkrad ab, ehe ich anfing bitterlich zu weinen.

DU LIEST GERADE
Vergissmeinnicht
Misterio / SuspensoEine Vermisste. Zwei Augenzeugen. Drei Leute, die die Wahrheit kennen. ,,Es wird Zeit den Fall neu aufzurollen, findest du nicht?" Vor über zwanzig Jahren soll ein Mädchen auf ihrer Abschlussfeier Selbstmord begangen haben, indem sie sich in den S...