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- Mona -

"Guten Morgen, Chefin", begrüßt Tinas fröhliche und für meinen momentanen Geschmack viel zu enthusiastische Stimme mich, als ich die Tür zum Schulsekretariat aufdrücke, "gut sehen Sie aus! Ich nehme an, Sie hatten erholsame Ferien?"
"Erholsame Ferien schon, aber keinen erholsamen Morgen", schaube ich und stelle mit einer schwungvollen Bewegung meine Handtasche auf den schmalen Eichenholztresen, welcher den Eingangsbereich des Sekretariats von Tinas Arbeitsbereich abtrennt, "manchmal glaube ich, dass den Menschen während ihres Sommerurlaubs sämtliche Kompetenzen abhanden kommen, insbesondere die Kompetenz anständig Auto zu fahren."
"Oh je", Tina wirft mir einen mitfühlenden Blick zu, während sie mit einem Löffel in ihrer Kaffeetasse rührt, "so schlimm?"
"Schlimmer." Genervt stütze ich meinen Ellenbogen auf den Tresen und mein Kinn in meine Hand, während ich zu Tina schaue. "Ich hatte zwischenzeitlich den Eindruck, ich würde mich beim Autoskooter auf irgendeinem Jahrmarkt befinden."
Tina, die gerade einen Schluck von ihrer Tasse nehmen wollte, prustet in ihren Kaffee.
Ich verdrehe die Augen. "Ach komm schon, so lustig war das nun auch wieder nicht."
"Das vielleicht nicht", erwidert Tina und kichert weiter, "aber dafür die Vorstellung von Ihnen, wie Sie in einen Autoskooter gequetscht durch die Straßen düsen."
Ich verdrehe erneut die Augen, muss aber ebenfalls etwas lachen. "Schön, dass du deinen Spaß hast. Bekomme ich vielleicht auch so eine Tasse von deinem Gute-Laune-Kaffee? Und was auch immer du hineingetan hast, verdopple bei mir die Dosis."
"Aber natürlich, Chefin."
Kopfschüttelnd und immer noch kichernd wendet Tina sich von mir ab und stapft die wenigen Schritte zur Kaffeemaschine, während ich mich wieder etwas aufrichte.
Auch wenn ich Tina erst seit knapp drei Jahren kenne, kommt es mir so vor, als wäre es schon viel länger.
Als ich damals als Direktorin an der Schule angefangen hatte, stand sie mir stets mit Rat und Tat zur Seite und half mir besonders in den ersten Wochen bei der Einarbeitung und der Koordinierung meiner Termine. Insofern hatte ich schnell begriffen, warum mein Vorgänger Direktor Steiner sie immer als die gute Seele der Schule bezeichnet hat.
Nachdem die besagte gute Seele eine der leeren Tasse mit der angenehm duftenden schwarzen Flüssigkeit aus der kleinen Kaffeekanne gefüllt hat, dreht sie sich wieder zu mir um und kommt zurück zum Tresen.
"Gleich wird es Ihnen besser gehen, Chefin", sagt sie und stellt die dampfende Tasse auf dem Tresen vor mir ab, "Sie werden schon sehen."
"Wenn du das sagst", seufze ich und greife nach meiner Tasse, "ein Glas Wein wäre mir jetzt trotzdem lieber."
"Es ist doch noch so früh am Morgen."
"Eben", erwidert ich und nehme einen großen Schluck aus der Tasse, während Tina erneut lacht, "wie waren denn deine Ferien? Ich nehme an, du hast wieder deine Familie besucht, oder?"
"Oh ja!", erwidert Tina und streicht sich eine Strähne ihres schulterlangen schwarzen Haares hinters Ohr, während sie mich breit anlächelt, "es war so schön, meine Mama und meine Geschwister endlich wiederzusehen und die Kinder haben sich auch riesig gefreut, den Sommer mit ihren Cousins und Cousinen zu verbringen. Und als Reiseziel ist Venedig ja immer eine gute Idee."
"Ach, sagt man das nicht normalerweise über Paris?", erwidere ich und kann mir ein amüsiertes Lachen nicht verkneifen, als Tina leicht trotzig die Arme vor ihrer kleinen, rundlichen Statur verschränkt. "Okay, okay. Tut mir Leid. Und ich verspreche dir auch, dass ich Zoe bei unserem nächsten Telefonat nicht verraten werde, dass du das Zitat ein bisschen angepasst hast."
Bei der Nennung des Namens meiner besten Freundin und einer unserer früheren Französischlehrerinnen horcht Tina auf.
"Oh, hatten Sie in den letzten Wochen mal Kontakt zu ihr gehabt?"
Ich nicke und nehme einen weiteren Schluck aus meiner Tasse. "Ja, das hatte ich. Zoe hat die Ferien zusammen mit Lola in der Normandie in dem Ferienhaus ihrer Eltern verbracht. Und davor sind die beiden sogar noch zusammengezogen. Das alles ist so unfassbar süß, dass man fast einen Zuckerschock erleiden könnte."
"Ach, Chefin!", erwidert Tina lachend und seufzt danach tief auf, "ich finde es schön, dass die beiden zueinander gefunden haben. Auch wenn ich damit ehrlich gesagt nicht gerechnet habe."
"Eine Beziehung zwischen einer Schülerin und einer Lehrerin ist ja nun mal auch nicht allzu üblich. Oder sollte es zumindest nicht sein", erwidere ich trocken und leere meine Tasse mit einem letzten Zug.
Dass ich von der Beziehung der beiden schon relativ am Anfang wusste und nicht erst viel  später, würde ich Tina besser nicht sagen. Manchmal war es ganz gut, das eine oder andere Detail für sich zu behalten.
"Trotzdem finde ich es schön. Gerade wenn man bedenkt, wie sehr Lola sich in ihrem Abschlussjahr vermutlich auch dadurch ins Positive entwickelt hat." Tina seufzt erneut zufrieden auf und greift dann nach meiner leeren Kaffeetasse. "Und wie geht es den beiden jetzt? Haben Sie da auch etwas gehört?"
"Nun, Zoe hat heute ihren ersten Tag an ihrer neuen Schule. Und Lola überlegt, ob sie nicht eine Ausbildung im Kindergarten oder etwas anderes in der Richtung machen soll. Schließlich hat sie durch die Erziehung ihres kleinen Bruders einiges an Erfahrung sammeln können."
"Das klingt wunderbar." Mit einem letzten zufriedenen Seufzen dreht Tina sich wieder von mir weg und stellt meine leere Tasse neben die Kaffeemaschine. "Richten Sie den beiden ganz liebe Grüße von mir aus, wenn Sie das nächste Mal mit Zoe telefonieren."
"Das mache ich", erwidere ich und hebe meine Augenbrauen, als ein dumpfes Vibrieren aus meiner Handtasche dröhnt.
Oh nein, nicht schon wieder...
Ich unterdrücke ein genervtes Augenrollen und ziehe meine Handtasche zu mir, um daraus mein Handy zu fischen und die vorwurfsvoll blinkende Benachrichtigungsleuchte zu betrachten.
Ich habe Tina nicht ganz die Wahrheit gesagt, als ich behauptet habe, nur wegen der mangelnden Fahrfähigkeiten einiger Autofahrer so genervt zu sein. Wie gesagt, manchmal war es ganz gut, das eine oder andere Detail für sich zu behalten. Und dieses Detail verlangte mir bereits seit ein paar Wochen einiges an Nerven ab...
Mit einem leisen Grummeln entsperre ich das Display meines Handys und kann das Augenrollen nun doch nicht mehr zurückhalten.
Sieben ungelesene Nachrichten von Linda...na super...
Da sind während meiner Fahrt zur Schule also nochmal drei dazugekommen...
Hat die Frau eigentlich nichts Besseres zu tun als mir zu schreiben? Blöde Frage, offensichtlich nicht...
Dabei hat sie gar nicht so klammernd gewirkt, als wir uns zu Beginn der Ferien in einer Bar kennengelernt hatten.
Im Gegenteil, sie war selbstbewusst, intelligent, erfolgreich und vor allen Dingen unabhängig. So war sie zumindest damals gewesen und ich hätte mich sonst auch gar nicht erst auf unsere kurze, wenn auch intensive Affäre eingelassen.
Zumal ich ihr auch von Anfang an klar und deutlich gesagt hatte, dass nicht mehr daraus werden würde.
Wahrscheinlich hat sie diesen Teil konsequent überhört...
"Schlechte Nachrichten?"
Mein Gesichtsausdruck muss Bände gesprochen haben, denn als ich wieder von meinem Handy aufschaue, sehe ich, wie Tina mich etwas besorgt mustert, während ihre Finger ein Blatt Papier fest umfassen.
"Na ja, Auslegungssache", erwidere ich seufzend und zucke mit den Schultern, während ich mein Handy wieder in meiner Handtasche verschwinden lasse, ohne Lindas Nachrichten gelesen zu haben. "Manchmal sind keine Nachrichten die allerbesten Nachrichten."
"Das klingt aber nicht so gut, Chefin", entgegnet Tina und mustert mich mit einem prüfenden Blick, woraufhin ich nur eine wegwerfende Handbewegung mache.
"Ach, mach dir mal keine Gedanken um mich, Tina. Sag mir lieber, was du da hast."
Mit dem Kopf deute ich auf das Blatt Papier in ihrer Hand.
"Oh." Mit gehobenen Augenbrauen schaut Tina auf das Papierstück, so als hätte sie vergessen, dass sie es noch festhält, und legt es kurz darauf vor mir auf den Tresen. "Das sind nur die Namen der neuen Schülerinnen und Schüler. Sie wissen schon, für die Willkommensgespräche gleich. Das sollte auch nicht besonders lange dauern, es sind schließlich nur sieben Schüler. Und wenn ich die Sieben in ihre jeweiligen Klassen gebracht habe, müssen wir uns noch ein paar abschließende Gedanken zu der Willkommensheißung der Fünftklässler am Donnerstag machen und..."
Während Tina nach und nach in ihrem Monolog aus Terminen und To Do's versinkt, lasse ich meinen Blick über die Namensliste gleiten.
1. Nadine Brandt, Klasse 7a
2. Simon Dietrich, Klasse 9b
3. Jonathan Faber, Klasse 8c
...Faber?
Ich stocke und blinzle mehrfach, doch ich habe mich nicht verlesen.
Dort stand es
Schwarz auf weiß.
Faber.
Ich schlucke.
Konnte das...war das möglich?
Ich meine...
Ach, so ein Unsinn!
Verärgert über mich selbst schüttle ich den Kopf.
So selten ist der Name jetzt auch wieder nicht!
Was denke ich da nur wieder für wirres Zeug?!
"Alles in Ordnung, Chefin?"
Tinas Frage lässt mich erneut aufsehen und ich gebe zu, dass ich einen kurzen Moment brauche, um mich zu sammeln, bevor ich meine Schultern straffe und mich räuspere.
"Ja, Tina. Alles bestens", entgegne ich so entschlossen wie möglich, während Tina mich erneut etwas besorgt mustert.
Ohne auf ihre stille Frage einzugehen deute ich mit meinem Kopf auf die Tür rechts von mir. "Ich werde mich jetzt schon mal in mein Büro zurückziehen. Sei so lieb und bring mir bitte die entsprechenden Unterlagen, die wir zu den neuen Schülern vorliegen haben, damit ich mich schon mal ein wenig einlesen und später in den Willkommensgesprächen eventuelle Fragen klären kann."
"Sicher, Chefin", sagt Tina und nickt leicht, wenn auch etwas nachdenklich, während ich nach meiner Handtasche greife und in Richtung meiner Bürotür gehe.
Kaum dass ich diese hinter mir geschlossen habe, lasse ich meine Handtasche auf den Boden fallen und lehne mich mit dem Rücken gegen die Tür.
Faber...
Ich schüttle leicht den Kopf und schließe die Augen, während ich mir mit zwei Fingern meine dröhnende Schläfe massiere.
Ausgerechnet Faber...

- Romy -

"Mama! Verdammt, wir müssen aufstehen!"
Jonathans Ruf und das abrupte Rütteln an meiner Schulter lassen mich erschrocken hochfahren.
"Was...wie..." Ich blinzle mehrmals und reibe mir mit einer Hand über meine verschlafenen Augen, bevor ich das Gesicht meines Sohnes erkenne, der neben der Couch, auf der ich liege, steht und dessen rotblonde Locken genauso zerzaust sind wie meine Haare. "Was ist passiert, Jojo?"
"Wir haben verschlafen", erwidert Jonathan und hält mir meine Armbanduhr hin, die ich ein paar Schritte entfernt auf den kniehohen Wohnzimmertisch gelegt habe. "Du hattest doch gesagt, dass du mich wecken wolltest, wenn du von deiner  Nachtschicht nach Hause kommst."
Irritiert runzle ich die Stirn.
"Wie? Verschlafen? Ich hab mich doch nur ganz kurz hingelegt", sage ich und ziehe Jonathan die Armbanduhr aus der Hand, bis ich nach erneutem mehrmaligen Blinzeln erkenne, dass diese 8:10 Uhr anzeigt.
Schlagartig weiten sich meine Augen.
"Oh nein! Verdammt!"
"Sag ich ja", entgegnet Jonathan trocken und dreht sich um, um wieder aus dem Wohnzimmer zu stürmen, wobei er fast über einen der vielen Umzugskartons gestolpert wäre.
Obwohl wir bereits in der zweiten Woche der Sommerferien hierher, in die neue Stadt und in die neue Wohnung, gezogen waren, haben wir es immer noch nicht geschafft alle Kartons auszupacken.
Immer war etwas dazwischen gekommen.
Die Eingewöhnung in die neue Umgebung und für mich zusätzlich meine neue Krankenschwesterstelle im Krankenhaus.
Die Auseinandersetzung mit dem neuen Vermieter wegen der Kaution, die plötzlich höher war als vorher vereinbart.
Und die ständigen Anrufe von David, der immer wieder aufs Neue mit mir über die Trennung sprechen wollte. Als ob wir diesbezüglich noch irgendetwas zu klären hätten...
Alles in allem war es in den letzten Wochen mehr als stressig gewesen.
Und jetzt verschlafe ich auch noch...ausgerechnet an Jonathans erstem Schultag an der neuen Schule!
Dabei sollte dieser Umzug doch für uns beide ein Neuanfang werden...verdammt!
Seufzend schlage ich die dünne Decke, die ich vorhin provisorisch über mich gelegt hatte, zurück und stehe auf.
Wenigstens bin ich schon angezogen. Ein schwacher, aber wenigstens kleiner Trost.
Mit einer geschickten Bewegung befestige ich meine Armbanduhr um mein Handgelenk, fahre mir mit beiden Händen durch meine leicht zerzausten Haare und stehe auf, bevor ich es Jonathan gleichtue und den kleinen Hindernisparcours aus gefüllten Umzugskartons durchquere, um aus dem Wohnzimmer und auf den Flur zu gelangen.
Durch das plätschernde Geräusch des Wassers weiß ich, dass Jonathan im Bad ist und lehne mich gegen den Türrahmen der geschlossenen Badezimmertür.
"Jojo, es tut mir Leid!", rufe ich von außen durch die Tür. "Eine Kollegin auf der Station hat sich krankgemeldet und dann gab es auch noch mehrere Notfälle in der Nacht. Ich war einfach so fertig und wollte mich wirklich nur ganz kurz hinlegen. Aber mach dir keine Sorgen, ich werde gegenüber deinem neuen Direktor die volle Verantwortung für die Verspätung übernehmen und..."
Ich verstumme, als die Badezimmertür aufgezogen wird und Jonathan dahinter erscheint, der gerade dabei ist, sich die Zähne zu putzen.
"Dihetoin", nuschelt er und schaut mich aufmerksam aus seinen blauen Augen an, während Zahnpastaschaum an seinen Mundwinkeln entlangläuft.
"Ähm", ich erwidere seinen Blick fragend und hebe schließlich eine Augenbraue, "wie bitte?"
"Dihetoin", wiederholt Jonathan, diesmal etwas eindringlicher, doch als ich ihn immer noch verständnislos anschaue, seufzt er auf und spuckt den Zahnpastaschaum ins Waschbecken.
"Direktorin", sagt er und wischt sich mit dem Handrücken über den Mund, um die Zahnpastareste aus seinen Mundwinkeln zu entfernen. "Es ist kein Direktor, sondern eine Direktorin. Nicht, dass du am Ende noch die falsche Person begrüßt. Wobei du ihr damit bestimmt im Gedächtnis bleiben würdest, wenn unsere Verspätung nicht schon dafür ausreichen sollte."
"Sehr witzig, Jojo", erwidere ich und verdrehe leicht die Augen, während Jonathan mich frech angrinst und anschließend seinen Mund ausspült, bevor er sich an mir vorbeischiebt und auf den Flur tritt.
"Ich ziehe mich nur noch schnell um und dann können wir los."
"Okay, gut", sage ich, auch wenn ich mir sicher bin, dass Jonathan meine Antwort nicht mehr gehört hat, so schnell wie er seine Zimmertür hinter sich zugeworfen hat.
Mit einem tiefen Seufzer fahre ich mir erneut durch die Haare.
Super gemacht, Romy Faber.
Das hast du ja mal wieder ganz toll hinbekommen...

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Hällochen ihr Lieben :)
Wie versprochen geht es ab heute mit Monas Geschichte weiter.
Ich hoffe, euch hat das erste Kapitel  gefallen und ihr könnt mir gerne eure Eindrücke und Gedanken in den Kommentaren hinterlassen.
Abgesehen davon hoffe ich, dass es euch allen gut geht und dass ihr einen tollen Start in den Oktober hattet.
Alles Liebe
Mally

Liebe Auf Abwegen (Mona & Romy - Band 1) (girlxgirl) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt