Lev war auch, nachdem Mum wieder weg war, nicht mehr aufgetaucht.
Ich vermutete, dass er irgendwie aus dem Fenster gesprungen war, konnte mir aber nicht erklären, wie er das aus dieser Höhe hätte überleben sollen. Also hatte ich quasi doch keine Ahnung, wo dieser Kerl hin war.
Im Nachhinein war mir auch aufgefallen, dass Lev mir das Verspechen schuldig geblieben war, dachte mir aber nicht wirklich was dabei. Was mich viel mehr störte, war die Tatsache, dass er in Seyas Klamotten draußen herumlief und seine einfach bei mir gelassen hatte. Wenn ich da später auch nur einen Fleck drauf finden würde, dann würde Lev einen Vorgeschmack der auf ihn wartenden Hölle erleben. Bei meinen Schätzen verstand ich keinen Spaß.
Mies gelaunt schmiss ich die Tüte mit Lev's Kleidung auf den Stuhl neben mir, der dank Lane ja frei war. Der hatte, wie mir aufgefallen war, auch wirklich jeden Kurs gemeinsam mit mir. Jeden. Als hätten wir uns abgesprochen, was wir nicht hatten. Und jedes einzelne Mal hatte er die Nummer mit den Sitzplätzen abgezogen. Ich verstand immer noch nicht warum. Was auch immer Lane hatte, er übertrieb maßlos.
Meine Laune wurde auch nicht gerade gehoben, dadurch, das wir Geschichte in den ersten beiden hatten und ich nun mein Referat halten durfte. Es war nicht so, dass ich irgendwelche Probleme hätte, vor anderen zu sprechen und vor der Klasse zu stehen, ich mochte es nur einfach nicht.
Ich schaute auf, als Lane an mir vorbei zu seinem Platz lief. Mich interessierte immer noch, was er mit den Everwoods gemeint hatte. Als ich ihn beim letzten Mal darauf angesprochen hatte, war seine Antwort ja mehr als unzufriedenstellend ausgefallen. Hör zu. Was sollte ich denn bitte damit anfangen?
Also drehte ich mich kurzentschlossen zu Lane um und starrte ihn so lange an, bis er meinen Blick erwiderte. Als ich dann endlich seine volle Aufmerksamkeit hatte, sprach ich ihn mit gesenkter Stimme an, damit unsere Klassenkameraden nichts davon mitbekamen. ,,Nochmal, wegen den Everwoods. Ich -‚''
,,Miss Hill, wir wissen alle wie gut Mr Bale aussieht und es ist dementsprechend nicht verwunderlich, dass Sie ihre Aufmerksamkeit lieber ihm statt dem Unterricht widmen.'', unterbrach mich unsere reizende Geschichtslehrerin und ich drehte mich langsam und sicher knallrot zu ihr um, während Lane hinter mir wütend aufknurrte, als hätte sie etwas gesagt, was ihm gar nicht gefiel. Dabei hatte sie ihm doch eigentlich ein Kompliment gemacht. Soll einer die Typen hier verstehen...
Mrs Acanda fuhr jedoch ungerührt fort. Ihre Augen schienen Giftpfeile auf mich zu schießen. ,,Sie sind bereits negativ aufgefallen, wenn ich Sie an den Grund für Ihr heutiges Referat erinnern darf, Miss Hill. Ich rate Ihnen strengstens, von nun an besser in meinem Unterricht aufzupassen.''
,,Natürlich, Mrs Acanda. Entschuldigung.'', presste ich gezwungen hervor.
,,Nun, wo wir gerade dabei sind - Komm doch gleich nach Vorne.'', forderte sie mich auf und nahm ihrerseits auf der Tischkante des Lehrerpults Platz.
Mit meinen vorbereiteten Unterlagen folgte ich ihrer Anweisung und stellte mich mit dem Rücken zur Tafel gerade hin. Nach außen hin versuchte ich gelassen zu wirken, während es in meinem Inneren brodelte. Wie ich diese Lehrerin doch hasste. Und dieses Gefühl beruhte definitiv auf Gegenseitigkeit, wie sie mir gerade mal wieder bewiesen hatte.
Ich meine, ich hatte jedes Recht dazu, aber sie? Was hatte ich ihr bitte getan? Es konnte doch wohl nicht sein, dass meine kurze geistliche Abwesenheit das zu verschulden hatte. Vor allem, weil ich einen anderen Schüler ebenfalls beim gedankenverloren vor sich hinstarren ertappt hatte und da hatte Mrs Acanda nichts zu gesagt, obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass sie es gesehen hatte. Unfair.
Ich räusperte mich. ,,Die Geschichte Valdez begann schon schon 1898 mit ihrer Gründung zur Zeit des Goldrauschs und nach dem spanische Marineminister Antonio Valdés y Fernández Bazán benannt.'', fing ich mit klarer, ruhiger Stimme an.
Mit den abschließenden Worten ,,Und damit endet die bisherige Geschichte Valdez, einer malerischen, bedeutenden Hafen- und Kleinstadt in Alaska.'' beendete ich mein Referat und schaute zu Mrs Acanda.
Diese ignorierte mich jedoch und schaute stattdessen in die Klasse. ,,Hat jemand etwas dazu zu sagen? Meinungen? Kritik?''
Ein paar Finger gingen hoch. Sie nahm ein blondes Mädchen mit Brille dran.
,,Also ich fand deinen Vortrag an sich ganz gut, du hast auch alle wichtigen Punkte ausführlich zur Sprache gebracht und bist auf alles eingegangen. Nur hätte ich mir vielleicht noch ein Plakat mit Bildern oder so gewünscht.''
Ich nickte nur, während ich innerlich das Mädchen erwürgte.
,,Ich fand dein Referat wirklich gut und würde jetzt nicht unbedingt Bilder brauchen. Ich meine, wir leben in dieser Stadt. Die Bilder können wir uns quasi jeden Tag selber anschauen.''
Ich lächelte dem sommersprossigen Jungen dankbar zu.
,,Was ist denn mit Ihnen, Mr Bale? Sie hatten doch beim letzten Mal dazu so viel zu sagen.'', sprach Mrs Acanda Lane an und eine unterschwellige Hinterlistigkeit schwang in ihrer Stimme mit.
Genauso wie der Rest der Klasse schaute ich nun zu Lane, der mit verschränkten Armen in seinem Stuhl lehnte und immer noch völlig emotionslos wirkte.
,,Die Everwoods und Legenden haben gefehlt, sonst war es gut.'', äußerte er sich nach einem Moment des gespannten Schweigens ausdruckslos.
,,Dazu stand im Internet nichts.'', entgegnete ich und kniff die Augen zusammen.
,,Und? Du hast dir doch Bücher ausgeliehen, oder?''
,,Ja, aber...woher weißt du das?''
,,Stand dazu denn nichts darin?'', ignorierte er meine vorherige Frage und fixierte mich mit seinen Augen durchdringend.
,,Nein? Ich habe nichts von einer Familie Everwood gefunden'' Ich verschränkte nun ebenfalls die Arme. Was sollte das jetzt von Lane?
,,Dann hast du wohl eines übersehen'', meinte er geheimnisvoll und ich zog die Augenbrauen zusammen, als ich mich an dieses Alaska Legends-Buch erinnerte, in das ich tatsächlich noch nicht reingeschaut hatte. Aber das konnte er doch nicht wissen. Oder?, fragte ich mich unsicher. Der Ort hier war ja eh unheimlich, von den Monsterwölfen ganz zu Schweigen - wer wusste da also schon, was sich hinter seinen Bewohnern verbarg?
Oder ich hatte noch einen Stalker. Wobei ich das bei Lane's Verhalten eher bezweifelte. Der war doch ein wandelnder Stein auf emotionaler Ebene. Und um mein Stalker zu sein, müsste er sich dementsprechend für mich interessieren, was aber so weit ich das beurteilen konnte, definitiv nicht der Fall war.
,,Und was für Legenden?'', wollte ich interessiert wissen. Vielleicht handelten die ja von diesen Monsterviechern aus dem Wald und ich konnte etwas mehr über sie erfahren.
,,Nun, Mr Bale, danke für Ihre Meinung, aber wir möchten nicht die ganze Stunde mit Miss Hills Vortrag verschwenden, deswegen unterbreche ich hier an dieser Stelle.'', fuhr Mrs Acanda harsch dazwischen und trug etwas in dem kleinen Heftchen ein, das sie die ganze Zeit über in ihrer Hand gehalten hatte. Sie schaute zu mir. ,,Eine ganz ordentliche Leistung, aber nicht herausragend. Sie können sich wieder setzen, Miss Hill.''
Schnell huschte ich zurück an meinen Platz. Geschafft.
Ab jetzt würde ich definitiv nicht mehr auch nur eine Millisekunde unaufmerksam sein. So wie die mich auf dem Kieker hatte.
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Alaska Legends - Alpha Levan
Teen FictionIn der malerischen Kleinstadt Valdez soll Jallyne eigentlich ein ruhiger Neuanfang erwarten, fernab von den Problemen, die sie in ihrer Heimatstadt Louisville zurückgelassen hat. Doch schon an ihrem ersten Tag wird klar, dass Jallyne's neues Leben...