Es ist tot

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Evelyn:

Mein Leben ist nicht mal mehr einen Pfifferling wert. Die Vermutung war natürlich berechtigt. Ein einfacher Satz. Drei Worte. Es ist tot.

Nun sitze ich hier und versuche zu realisieren was genau passierte. Das Risiko, sein Baby zu verlieren ist in den ersten Wochen immer relativ hoch, doch mit diesem Thema wollte ich mich erst gar nicht beschäftigen. Hätte ich es lieber einmal getan. Die Ärztin hörte die Herztöne unseres Kindes nicht mehr. Nach einem kurzen Eingriff, den ich lieber nicht genau beschreiben möchte wusste ich, dass dieses kleine Baby nie das Licht der Welt erblicken würde. Es würde nie erfahren wie schön es wäre gemeinsam in die Zukunft zu starten. Es war nicht geplant, ebenso wenig ein Wunschkind, doch mittlerweile hatte ich mich an den Gedanken gewöhnt bald Babygeschrei und Windeln wechseln ertragen zu müssen. Man könnte meinen es wäre mir ans Herz gewachsen, obwohl ich es nie in meinen Armen halten durfte. Nun trauere ich um einen ungeborenen Menschen. Wieder kann ich weder essen, noch trinken, mein Körper streikt gegen jegliche Nahrungsaufnahme. Die Heul und Verzweiflungsphase scheint von neuem zu beginnen.

"Evelyn, sag mir doch bitte endlich was los ist!" Lea sieht mit verschränkten Armen auf mich hinab.

"Du verstehst mich nicht. Es geht einfach nicht!" Unsanft schubse ich sie vor die Tür und lasse mich auf den Boden sinken. Dann fange ich wieder hemmungslos an zu weinen. Sie wird mich nie verstehen können. Niemand kann es nachvollziehen. Nur ich kann es, da ich dieses Kind in mir trug. Wenn wenigstens Samu da wäre.. Allein seine Anwesenheit würde mich wahrscheinlich sofort zur Ruhe bringen. Doch er scheint sich anderweitig zu vergnügen. Noch nie war diese Angst ihn zu verlieren so groß wie jetzt. Auch meine Zweifel, dich mich schon seit dem Anfang unserer Beziehung verfolgen sind mächtiger denn je. Zu allem Überfluss fängt es in diesem Moment an zu regnen.. Der Himmel weint mit mir.

Auf einmal überrollt mich dieses Bedürfnis, welches ich schon als Kind hatte. Im Regen herumzuspringen und sich alle Sorgen vom Leibe zu waschen. Meine Mutter hielt mich davon ab, mit den Worten: "Kind, bist du verrückt?! Bei dem Sau- Wetter holst du dir doch gleich ne Lungenentzündung!" Noch im nachhin verdrehe ich die Augen. Kann sein, dass meine Mutter Recht hatte, doch die Art wid sie es sagte, brachte mich in meinem weiteren Leben immer wieder auf die Palme. Nun ist es an der Zeit sich 'ne Lungenentzündung zu holen. Ich weiß, dass es ziemlich leichtsinnig und unvernünftig ist, doch ich renne an Lea vorbei und schnappe mir schnell eine Strickjacke sowie ein paar rote Chucks, die ich eigentlich nicht mehr tragen wollte, weil sie mich so sehr an Samu erinnern. Nun ja. Jetzt stehe ich im Regen und fühle mich immer noch schlecht. Die Regentropfen bahnen sich den Weg durch meine zugegeben sommerlichen Klamotten und durchnässen den gesamten Körper, sodass ich anfange zu bibbern. Mein Gott wir haben doch Sommer! Wie gern würde ich jetzt Samu's Stimme hören.. Mit ihm reden. Meine Gefühle offenbaren.. Aber er.. sucht sich gleich die nächste... Wütend wische ich die Tränen aus dem Gesicht, obwohl das bei diesem Regen sowieso niemanden auffallen würde. Ob ich ihn doch wenigstens anrufen sollte..? Nervös ziehe ich mein Handy aus der Tasche und wiege es nachdenklich hin und her. Er wird es sowieso erfahren. Ob von mir oder Lea ist nun auch fast schon egal. Also lasse ich es wieder sinken und betrachte den Regen auf meiner Haut.

Vielleicht habe ich wirklich alles falsch gemacht. Ich sollte mich nicht so oft mit meinen Eltern streiten und sie so akzeptieren wie sie sind, auch wenn ich ihre Meinungen oft nicht verstehe. Ehrlich sein. Wie oft ich in der letzten Zeit gelogen habe. Viel für Samu. Für uns. Für unsere gemeinsame Zukunft. Gemeinsam. Ich schlage die Hände überm Kopf zusammen und weine, schluchze, schreie und lasse alles raus was mir seit Monaten auf dem Herzen liegt. Wenn ich überlege wie sehr ich mich verändert habe. Positiv.. aber auch negativ..? Wegen ihm. Ich weiß, dass eine Menge Leute sich von mir abwenden würden, wenn sie wüssten.. dass ich mit meinem Lehrer eine heimliche Beziehung führe. Sollte es die falsche Entscheidung gewesen sein..? NEIN. Das kann ich ganz klar und wirklich ehrlich beantworten. In Gedanken sehe ich Samu's blaue Augen, sein Gesicht, sein strahlen, dass mich jeden Tag auf Wolke sieben befördert. Nein, dass möchte ich nicht mehr missen. Doch wenn man gleichzeitig bedenkt, wie er manchmal drauf ist.. Samu ist wie ein Teenager. Mal hat er gute Laune und ist der fürsorgliche Freund, bei dem man sich ausheulen kann und sich geborgen fühlt. Dann der, der sich wieder an seine kindliche Art erinnert, eifersüchtig wird, wenn man mal etwas mit einem Jungen unternehmen möchte und seine Sorgen in Alkohol ertränkt. Wäre das alles nicht genug, gibt es auch noch meine Klassenkameraden, die ihre neugierige Nase überall reinstecken und schon öfter vermuteten, dass Herr Haber mich bei allem bevorzugte und ständig vertäumt Blick Kontakt mit mir suchte. Die Schule eben. Ich ziehe erneut mein Handy aus der Hosentasche und erschrecke als mir das Datum in's Auge sticht. Es ist defenitiv zu früh um in Panik auszubrechen, die Ferien gehen noch eine Weile. Doch trotzdem: Die Qual Samu wieder jeden Tag nur aus der Ferne betrachten zu können, versetzt meinem eh schon angeschlagenen Herz einen schmerzhaften Stich. Diese ewige Lügerei.. früher hatte ich kein Problem damit, doch seit es zu meinem Alltag geworden ist, finde ich es einfach nur noch respektlos. Gleichzeitig habe ich jedes Mal ein verdammt schlechtes Gewissen. Schon mehrmals habe ich mit dem Gedanken gespielt einfach alles auffliegen zu lassen. Zuzugeben, morgens immer mit Samu in seinem BMW, anstatt mit dem Bus gefahren zu sein. Kurze Gespräche, Notenbesprechungen, zu nutzen um Berührungen auszutauschen. Nachmittage irgendwo zu verbringen wo uns niemand kannte. Einfach einmal zu vergessen, wer wir sind, wer wir waren und vor allem was in der Zukunft geschehen würde.

So sehr ich Samu auch liebe.. und höchstwahrscheinlich immer lieben werde. Man sollte dem ganzen ein Ende setzen, bevor es tatsächlich unerwartet jemand verraten würde. Er hat jemand besseres verdient als mich. Er braucht jemanden in seinem Alter. Ach, aber was erzähle ich.. Es ist immer das gleiche. Auch wenn wir uns wieder trennen würden.. Würden, würden, würden. Es ist Zeit Prioritäten zu setzen. Ich weiß, nicht wie meine Zukunft aussehen wird. Doch was ich weiß ist, dass sie nicht mit Samu sein wird. Keine Ahnung wo ich diese Gewissheit hernehme. Aber mein Gefühl trügt mich nie. Auch wenn wir nach meiner Schulzeit zusammen kommen.. Selbst ab da an wüsste jeder, dass wir schon vorher etwas am laufen hatten. Wie man es dreht und wendet.. Die Ausgangsposition wird immer dieselbe bleiben. Als könnte er ahnen, dass ich gerade seine Vor- und Nachteile abwiege, sehe ich seine Nummer auf dem Display. Rangehen oder klingeln lassen.. Kurz kämpfe ich mit mir und drücke doch entschlossen den grünen Hörer.

"Evelyn."

"Evelyn, bitte es war nur.. äh Sanna, die du im Hintergrund gehört hast. Wirklich."

Als könnte ich das glauben.

"Hört sich meiner Meinung nach, nicht gerade glaubwürdig an." Kurze Pause.

"Sag mal, glaubst du ich bin doof?

Ich bin vielleicht noch jung, aber ich bin nicht blöd. Ich wollte dir etwas wichtiges sagen und du legst einfach auf."

"Mann, Evelyn deshalb rufe ich doch an. Was ist los?"

"Ich habe unser Kind VERLOREN, dass ist los Herr von und zu Samu Aleksi Haber!"

Es zu sagen, tut noch viel mehr weh, als ich gedacht hatte. Mein Magen krümmt sich zusammen und ich versuche mich am Geländer der Brücke festzuhalten, doch ich rutsche ungewollt auf den nassen Boden. Samu wird nun auch panisch.

"Baby, wo bist du?! Alles ok, bei dir?"

"Den Umständen entsprechend nach schon", knurre ich zurück. "Ich glaube das nicht." Seine Stimme klingt weit, weit weg. Und traurig. Schon wieder könnte ich heulen. "Evelyn." Samu's Stimme bricht und ich höre, dass er schluckt. "Das ist alles so schrecklich."

"Ja." Eine längere Pause entsteht und ich fange wieder an zu frieren, muss niesen. Dann werd ich halt krank. Ist doch auch egal. "Bist du noch dran?"

"Ja."

"Du musst mir glauben, Süße. Du bist meine Freundin. Du bist die einzige die mir etwas bedeutet. Und das wird immer so bleiben."

Ich seufze.

"Es tut mir leid Samu, aber ich glaube dir nicht."

"Aber.."

"Halt einfach mal deine Klappe, ok? Ich höre es an deiner Stimme und würdest du vor mir stehen, wüsste ich genau wie dein Blick gerade aussehen würde. Du lügst.

Ich

kann

dir

nicht

glauben."

TEACH ME / Samu Haber FF Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt