Kapitel 16

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Angelo pov.

Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, Nico noch mindestens drei Tage in seiner Zelle alleine verrotten zu lassen, damit er richtig bereute, fliehen zu wollen. Allerdings brachte ich es einfach nicht übers Herz. Es waren erst 12 Stunden vergangen, seit ich Nico bewusstlos in den Raum getragen hatte, als ich beschloss, nach ihm zu sehen. Ich legte also meinen Laptop beiseite und verließ mein Zimmer. Auf dem Weg zum Keller lief ich an der großen Fensterfront zum Garten vorbei und bemerkte eine dünne Schneeschicht, die sich auf dem Rasen gebildet hatte. Ich liebte Schnee, und es war in meinen Augen viel zu schade, dass hier nahezu kein Schnee fiel. Und wenn er es doch mal tat, verschwand er auch schon bald wieder.

Bezaubert blieb ich einen Moment stehen, bevor ich mich wieder in Bewegung setzte und die Treppe zum Keller hinabstieg. Hier unten war es wirklich kalt. Sofort bekam ich eine Gänsehaut. Ich öffnete die Tür, hinter der sich Nico befinden musste, und entdeckte ihn am winzigen Fenster. Durch die Gitter hatte er offenbar nach draußen geblickt, auch wenn er jetzt, als er mich bemerkte, mit angstgeweiteten Augen zu mir sah. Hatte er wirklich solche Angst vor mir? Ich konnte das gar nicht verstehen, schließlich war er doch selbst schuld, dass ich ihn bestrafen musste. Wäre er nicht abgehauen, hätte ich ihn auch nicht maßregeln müssen, auch wenn ich zugeben musste, dass ich mich gestern wirklich zurückgehalten hatte. Warum ich das tat, konnte ich nicht sagen. Normalerweise bereitete es mir größtes Vergnügen, meine Opfer schreien zu hören. Aber bei ihm war das anders. Es löste in mir ein komisches Gefühl aus, wenn er Schmerzen hatte. Ich konnte es nicht beschreiben; es war wie eine Last, die mir den Brustkorb zusammendrückte.

Verunsichert sah er zu mir, und ich deutete ihm an, mir zu folgen, was er auch widerstandslos tat. Er zitterte und wankte leicht, sodass ich mich fragte, ob ich ihm wohl helfen sollte. Allerdings entschied ich mich schnell dagegen. Wo kämen wir da auch hin? Der Capofamiglia hilft einem dahergelaufenen Straßenjungen? Nein, undenkbar!

Zurück in meinen Räumlichkeiten kettete ich ihn zunächst einmal fest. Sicher ist sicher. So würde ich einen erneuten Fluchtversuch verhindern können. Ich wollte nicht, dass er mich verließ, warum, wusste ich nicht. Erfahren durfte er das unter keinen Umständen; ich war mir sicher, dass er diese Information gegen mich verwenden würde. So kalt es mir möglich war, sagte ich zu ihm: „Setz dich auf den Teppich. Das Privileg, auf dem Sofa oder im Bett zu schlafen, musst du dir erst wieder verdienen. Ich muss jetzt weiterarbeiten, du hast mich schon viel zu lange davon abgehalten. Also sei still und mach keinen Blödsinn. Bianca kommt in zwei bis drei Stunden vorbei, um nach dir zu sehen." Damit wandte ich mich von ihm ab und begann zu tippen. Besonders jetzt hatte ich viel zu tun. Ich hatte nun offiziell den Posten als Capofamiglia angetreten, und das brachte sehr viel Papierkram mit sich. Mein Vater war der ehemalige Capofamiglia, und da der Titel in der Familie weitergegeben wurde, war schon sehr früh klar, dass ich an meinem 22. Geburtstag diesen Posten von ihm übernehmen würde. Leider verstarb mein Vater schon sehr früh. Damals war ich gerade erst 12 Jahre alt. Von da an kümmerte sich mein Onkel Ludovico um mich und meine kleine Schwester. Außerdem verwaltete er den Posten meines Vaters, bis ich diesen mit 22 Jahren antreten konnte, und stand mir bei allen Belangen immer mit Rat und Tat zur Seite. Ohne ihn hätte ich es wohl kaum geschafft, diesen unkontrollierten Haufen, der sich Mafia schimpfte, in den Griff zu bekommen. Mit 17 übernahm ich die Position als Chef der Mafia in Venedig und konnte so schon viel Erfahrung sammeln. Das war aber noch nichts im Vergleich zu dem, was jetzt auf mich zukam.

Gerade war ich dabei, mich um einen Streit zwischen zwei benachbarten Mafia-Clans zu kümmern. Die Einzugsgebiete der Mafia von Palermo und Catania, die sich über fast ganz Sizilien erstreckten, überschneiden sich an gewissen Stellen, was immer wieder zu Konflikten und Schießereien führte. Nun war es meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sie sich wieder vertrugen. Gestern musste ich deshalb auch kurzfristig nach Sizilien fliegen, da der Konflikt etwas ausgeartet war, aber zum Glück konnte ich die Angelegenheit schnell wieder etwas beruhigen.

Versunken in meiner Arbeit schreckte ich auf, als die Tür aufflog und gegen die Wand knallte. Geistesgegenwärtig griff ich nach meiner Waffe, als ich Bianca entdeckte. Sie kam wutschnaubend auf mich zugestampft. Offenbar hatte sie es gar nicht geschätzt, dass ich den Wachen, die ich ihr zugeteilt hatte, damit sie ihre Ferien in Sicherheit genießen konnte, befohlen hatte, sie wieder nach Venedig zurückzubringen. Sie war nach der Zeremonie zu meiner Ernennung zum Oberhaupt der Mafia Italiens in die Schweiz geflogen, um dort etwas Skiurlaub zu genießen. Dieser Urlaub wurde nun aber drastisch verkürzt, was sie in Rage brachte. Das ließ sie mich auch deutlich spüren. Meine Schwester war schon immer ein kleiner Hitzkopf gewesen, und ich kannte das, weshalb ich mir auch keine Sorgen machte. Ich reizte sie nicht zusätzlich und wartete einfach ab. Nachdem sie sich ausgeschimpft hatte, schaute sie sich dann endlich Nico an.

„Kannst du den nicht mal anziehen? Du gehst doch nicht ernsthaft davon aus, dass der so schneller gesund wird?", blaffte sie mich an. Okay, zu früh gefreut, sie war immer noch sauer. Das spürte auch Nico, der ängstlich vor ihr zurückwich, bis ihm die Kette irgendwann keinen Spielraum mehr ließ. Bianca war das aber völlig egal, sie ging ihm einfach nach und sah ihn sich an. „Hmm, was hast du denn mit dem wieder angestellt? Ich weiß ja, dass du sie gerne schreien hörst, aber das verschandelt ihn doch, oder?", fragte sie mich und zeigte dabei auf Nicos linken Arm, wo eine klaffende Wunde prangte. „Da kannst du mir glauben, das war ich nicht. Der Kleine hat sich selbst seinen Peilsender rausgeschnitten", antwortete ich ihr, und sie sah Nico verblüfft an. „Köpfchen hat er ja offenbar, nur geholfen hat es ihm nicht wirklich. Ich nehme an, ich soll ihm noch gleich einen neuen verpassen?", fragte sie mich. Ich nickte nur und wollte mich wieder meinem Computer zuwenden, als sie mich aufhielt. „Die Wunde werde ich nähen müssen. Anästhetika habe ich keine dabei, die liegen in meiner Praxis, und ich renne jetzt sicher nicht noch in der ganzen Stadt rum. Du musst ihn also festhalten, während ich seine Wunde nähe." Ängstlich versuchte Nico noch weiter von ihr wegzukommen, aber die Kette ließ ihm keine Wahl. Nico zitterte und flehte, hatte aber keine Chance. Bianca bereitete Nadel und Faden vor, während ich mich schon mal in Stellung begab und mich hinter Nico setzte. Ich zog ihn zwischen meine Beine und hielt ihn fest. An meinem Bauch spürte ich sein Zittern und merkte, wie er sich ein klein wenig an mich drückte. Das freute mich irgendwie, aber es missfiel mir etwas, dass er dies nur tat, um von Bianca wegzukommen.

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Gestohlenes Herz: In den Fängen der MafiaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt