Kapitel 18

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Nico pov.

Durch eine sanfte Berührung an meiner Schulter wurde ich aus meinen Träumen gerissen. Noch müde verkroch ich mich etwas mehr in die warme Decke, als diese plötzlich verschwand. Erschrocken setzte ich mich auf und sah zu Angelo, der vor mir stand. „Essenszeit, du kannst dich später weiter von deinen Eskapaden gestern erholen", meinte er und deutete mir an, ihm zu folgen. Er setzte sich an den Tisch, während ich wieder neben ihm auf dem Boden Platz nahm. Vor ihm standen mehrere Teller mit Salat, Suppe, einem herrlichen Stück Lachs mit Gemüse sowie ein großes Stück Kuchen. Bei mir stand erneut nur eine unscheinbare Schüssel. Bei genauerem Hinsehen merkte ich, dass es sich um Milchreis mit Zimt handelte. Das mochte ich schon immer und auf sein Kommando ließ ich es mir schmecken. Schnell war das Abendessen vernichtet und ich wollte schon zurück in meine Ecke gehen, um wieder einzuschlafen, als mich Angelo davon abhielt. Er brachte mich ins Badezimmer, stellte mich unter die Dusche und gab mir Zahnbürste sowie Zahnpasta. Nach dem Zähneputzen ging ich wieder ins Zimmer, allerdings durfte ich nicht mehr auf den kuscheligen Teppich in der Ecke. „Letzte Nacht hast du versucht abzuhauen, denkst du, ich lasse dich einfach die ganze Nacht frei im Zimmer herumlaufen?", meinte Angelo. 'Frei', als ob ich nicht lache, dachte ich mir. Ich war garantiert nicht 'frei'. Vielmehr war ich wie ein Hund an meinem Bein vor seinem Bett angekettet. Wie um alles in der Welt hätte ich fliehen können? „Sicher ist sicher. Du schläfst diese Nacht in deinem Käfig", äußerte sich Angelo.

Er nahm den kleinen Schlüssel, den er um den Hals trug, und schloss damit den Ring, den ich am Fuß trug, auf. Leise klirrte die Kette, als sie auf den Boden fiel. Angelo führte mich zum Käfig, gab mir noch ein Kissen und die Decke vom Nachmittag mit den Worten: „Dafür, dass du heute so brav warst." Ich kniete mich hin und kroch in den Käfig, als Angelo die Tür hinter mir verschloss und in sein Bett stieg. Er löschte das gesamte Licht, bis auf seine Nachttischlampe, und las noch ein wenig, während ich das Kissen auf die harten Metallstreben am Boden des Käfigs legte und mich dann hinlegte. Zwar spürte man immer noch den unangenehmen Druck der Gitterstäbe durch das Kissen, aber es war um einiges besser als ohne. Ich deckte mich zu und beobachtete Angelo noch eine Weile. Eigentlich war er doch gar nicht so schlimm. Es kam mir so vor, als wollte er einfach seine Position verdeutlichen, es aber nicht böse meinte. Ich stellte mir vor, wie es wohl herausgekommen wäre, wenn wir uns das erste Mal auf den Straßen Venedigs begegnet wären und ich nicht sein Geburtstagsgeschenk geworden wäre. Ich war mir sicher, dass ich ihm nicht abgeneigt gewesen wäre und wer weiß, vielleicht wären wir ja Freunde oder sogar mehr geworden. Ich dachte noch eine Weile weiter und überlegte mir wilde Szenarien, bis ich schließlich im Reich der Träume versank.

Die Sonne schickte gerade ihre ersten Strahlen zum Fenster hinein, als ich meine Augen aufschlug. Ich fühlte mich viel besser als gestern. Zwar ziepten die Wunden noch ein kleines bisschen, aber schmerzen taten sie nicht mehr. Ich schielte zu Angelo hinüber. Er schien noch tief und fest zu schlafen. Aus Angst, ihn zu wecken und dadurch wütend zu machen, wagte ich es nicht, mich zu bewegen. Stattdessen versank ich wieder in Gedanken. Was würde Angelo mit mir tun? Würde er mich wirklich töten? Wie viele hatten schon vor mir hier bei ihm gesessen? Hatte er sie alle getötet? Warum hatte er das wohl getan? Das und noch viel mehr fragte ich mich, während die Sonne langsam immer höher stieg. Als die Standuhr gerade neun Uhr geschlagen hatte, erwachte Angelo. Er streckte sich ausgiebig und ging dann ins Badezimmer. Eine halbe Stunde später stand er frisch geduscht und in neuen Kleidern vor meinem Käfig. Er öffnete die Tür und ließ mich raustreten. Ungeduldig nahm er meinen Arm und wechselte den Verband. Er sah erstaunlich geübt dabei aus. Nach nicht einmal zwei Minuten hatte er meine Wunde gesäubert und ein neuer Verband zierte meinen Arm.

Angelo gab mir noch eine Boxershorts, drohte mir jedoch, dass ich fortan nie wieder ein Kleidungsstück bekommen würde, wenn ich nochmals versuchen würde abzuhauen. Als ich sie mir angezogen hatte, ging er zur Zimmertür und meinte, ich solle ihm folgen. Gesagt, getan, dackelte ich ihm hinterher. Bald schon kam uns ein Stimmgewirr entgegen und nur kurz darauf bog Angelo in einen Raum ab. Ich folgte ihm und erkannte, dass es sich dabei um einen Speisesaal handelte. Dutzende Männer und Frauen saßen dort auf Stühlen an langen Tafeln und machten sich über ein köstlich duftendes Frühstück her. Mir lief das Wasser im Mund zusammen und ich hätte mich am liebsten zu den Leuten gesetzt, aber ich wusste, dass dies Angelo missfallen würde. Als er eintrat, wurde es kurz still, bevor die Gespräche weitergingen. Mich beachteten sie seltsamerweise nicht groß, auch wenn ich nur in Unterwäsche hier stand. Lediglich von einigen wenigen bekam ich neugierige Blicke zugeworfen.

An einem etwas erhöht liegenden Tisch machte Angelo Halt und setzte sich. Sofort wurde er von den anderen am Tisch begrüßt. Hier saßen die in meinen Augen wichtigsten Personen: Bianca, Luca und Ludovico, sowie ein paar wenige Gesichter, die ich nicht kannte. An einem anderen Tisch konnte ich Diego entdecken, der keck zu mir rübergrinste. „Setzen, habe ich gesagt!", wurde ich aus den Gedanken gerissen und sah erschrocken zu Angelo. Einen Stuhl konnte ich nicht entdecken, weshalb ich mich neben den Stuhl von Angelo auf den Boden kniete. Zufrieden stellte er mir eine Schüssel mit Müsli auf den Boden und wandte sich dann ab, um mit seinen Tischnachbarn ein Gespräch zu beginnen.

Es war langweilig sondergleichen und ich freute mich, als Angelo endlich beschloss, in seine Gemächer zurückzukehren. Dort angekommen kettete er mich wieder fest, schnappte sich den Laptop und begann zu tippen. Sofort kehrte die Langeweile zurück und ich beschloss, sie mit einem Buch zu vertreiben. Folglich machte ich mich auf den Weg zum Bücherregal. „Sie ist nicht mehr dort", hörte ich Angelo sagen, und es dauerte eine Weile, bis ich verstand, worauf er sich bezog. Eigentlich logisch, dass er die Pistole anderswo versteckt hatte. Ich hätte es vermutlich auch so gemacht. Ich erwiderte Angelo nichts und machte mich auf die Suche nach einem spannenden Roman. Diesen in der Hand, ließ ich mich auf den Teppich sinken und vertiefte mich darin.

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Gestohlenes Herz: In den Fängen der MafiaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt