WOLVES - the secrets we remember || BAND 2

Kapitel 20

Mirjam

Eine Eiseskälte breitet sich in Mirjam aus und lässt alles in ihr erstarren, als das, was sich vor ihren Augen abspielt, langsam in ihr Bewusstsein sickert. Sie sieht die Gestalten der anderen über die Lichtung huschen, hört ihre aufgeregten Stimmen und hat doch nur Augen und Ohren für die einzige Wahrheit, die sich schon vor Minuten in ihr zu bilden begonnen hat:

Louisas Plan hat nicht funktioniert. Melanie hat Leon getötet.

Mirjam sieht Louisas zusammengekrümmte Gestalt, die sich über Leon beugt, ihn schüttelt und am liebsten will sie zu Louisa gehen, sie in den Arm nehmen, sie trösten, doch sie kann nicht. Sie ist wie festgefroren. Und sie weiß auch, dass kein Wort der Welt Louisa jetzt trösten könnte.

Kraftlos sackt sie auf die Knie, als ihre Beine mit einem Mal zu schwach sind, um sie noch zu tragen. Im Grunde hatte sie es in dem Moment begriffen, als Melanie in ihrer Trance zum ersten Mal Louisa angesprochen hatte. Als sie angefangen hatte, von Gefühlen zu sprechen. Für Mirjam hatte es sich angefühlt, als würde sie endlich jemand auf etwas hinweisen, was eigentlich schon lange offensichtlich ist. Den ganzen Abend hatte sie eine seltsame Ahnung gehabt, wann immer sie Louisa dabei ertappt hatte, wie sie Leon ansah. Wann immer sie gehört hatte, wie Lou seinen Namen aussprach. Und das speziell nachdem sie sich alle auf dieser Lichtung wiedergetroffen hatten. Auch da war Mirjam schon sicher gewesen, dass da irgendwas zwischen Leon und Louisa passiert sein musste. Selbst die Wochen vor dem Klassentreffen hatte Louisa immer ein wenig seltsam reagiert, wenn das Thema auf Leon kam. Ein Puzzleteil nach dem anderen war an seinen Platz gefallen und plötzlich war Mirjam auch klargeworden, dass mit Louisa genau genommen schon seit Leons Umzug damals etwas anders gewesen war. Nun weiß sie, warum. Und als sie dann bemerkt hatte, wie Leon Louisa angeschaut hatte, war sie endgültig sicher gewesen, dass ihre Ahnung der Wahrheit entsprach.

Und deswegen war Mirjam von Anfang an klar gewesen, dass Louisas Idee nicht funktionieren würde. In dem Moment, als sie es ausgesprochen hatte, hatte Mirjam es gewusst. Das Schlimme ist, dass Louisa eigentlich recht gehabt hatte: Die Wölfe können von denen gerettet werden, die sie lieben. Aber eines hatte sie dabei nicht bedacht – oder sie hatte es aus irgendeinem Grund nicht wahrhaben wollen: Leon hat nicht Melanie geliebt, sondern Louisa selbst. Egal, was er gesagt hätte, egal wie sehr er versucht hätte, Melanie von seiner Liebe zu überzeugen – er wäre mit keinem Wort zu ihr durchgedrungen. Weil diese Liebe nicht existierte. Und deshalb war sein Ende unausweichlich gewesen.

Mirjam schließt die Augen. Die Tränen scheinen festzusitzen, eingefroren von der dicken Eisschicht in ihr. Zurückgehalten von dem Schock. Da ist nur ein unangenehmes Brennen.

Jeder der Wölfe hat etwas, das ihn schwach macht. Und das was sie lieben kann kein anderer ersetzen...

Als wäre es gestern gewesen, erinnert Mirjam sich an die Zeilen aus dem Gedicht. Ein tiefer Schmerz durchzuckt sie, als erneut Louisas Schluchzen zu hören ist. Und wie auf ein Stichwort hört Mirjam rechts von sich ein Geräusch. Melanie hat den Stein fallen gelassen, mit dem sie Leon zu Boden geschlagen hat und starrt nun, genau wie Mirjam zuvor, unbeweglich auf das Geschehen vor ihr.

„Melanie?", wispert Mirjam leise, doch sie reagiert nicht. In Mirjam zieht sich alles zusammen, als sie daran denkt, was noch auf Melanie zukommt, wenn sie erstmal aus ihrer Trance erwacht. Wenn sie erkennt, dass sie ihren Freund umgebracht hat. Sie wird daran zerbrechen, denkt sie. Nach dem zu urteilen, wie sie vorher schon drauf war, wird sie das nicht verkraften.

Melanie gibt keinen Ton von sich, als sie zaghaft einen Schritt nach vorn macht, in die Richtung der Gestalt, die da am Boden liegt. Und mit jeder Sekunde meint Mirjam mehr und mehr zu sehen, wie sich in ihrem Gesicht etwas verändert. Wie dort etwas auftaucht, das Mirjam nicht erwartet hätte. Zumindest jetzt noch nicht.