Kapitel 13

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Mirjam

Die Nacht scheint unendlich zu sein und jegliches Zeitgefühl ist restlos verschwunden, seit Mirjam mit den anderen durch den Wald irrt. Sie kann nicht sagen, wir lange sie schon nach den anderen suchen; sie kann die Rufe, die sie durch die Dunkelheit geschickt haben, nicht mehr zählen. Nur eins weiß sie: obwohl sie ununterbrochen laufen und laufen, scheinen sie keinen Schritt weiter zu kommen. Mirjam hat mehr und mehr das Gefühl, als irrten sie in einem unendlichen Labyrinth umher, aus dem es keinen Ausgang gibt.

Um sie herum sind die anderen Mädchen in tiefem Schweigen versunken. Ihre Rufe sind mit der Zeit, in der sie nicht erwidert wurden, immer heiserer geworden, bis sie schließlich ganz verstummt sind. Die Hoffnungslosigkeit ist beinahe mit Händen greifbar. Werden wir jemals einen Weg hier raus finden? Diese Frage schwirrt Mirjam nun schon seit einer Ewigkeit im Kopf herum. Und mit jeder verstreichenden Sekunde spürt sie die Enttäuschung der anderen noch ein bisschen stärker. Sie fühlt sich, als hätte sie sie im Stich gelassen; als wäre es speziell ihre Aufgabe, sie hier rauszubringen. Aber die Chance, dass das geschieht, rinnt ihnen allen immer unaufhaltsamer durch die Finger.

Aus dem Augenwinkel wirft sie ab und zu einen Blick auf Melanie. Die scheint sich immer mehr in sich selbst zu verkriechen, je weiter sie gehen. Die Leere, die sie ausstrahlt, ist beinahe körperlich spürbar. Mirjam seufzt leise. Auch wenn sie Melanie immer noch verachtet wegen allem, was war, kann sie das Mitgefühl einfach nicht unterdrücken, das sie bei ihrem Anblick spürt. Denn sie kann nur zu gut nachvollziehen, was Melanie grade durchmacht. Mit einem leichten Schaudern denkt sie an das vergangene Jahr zurück. Die Ereignisse von damals scheinen sich auf grausame Art zu wiederholen, wenn es dieses Mal nicht sogar noch schlimmer ist. Wenn sie selbst und all die anderen beim ersten Spiel schon beinahe den Verstand verloren haben, wie schlimm muss es dann jetzt für die sein, die das alles zum ersten Mal erleben?

Ein paar Schritte weiter fühlt Mirjam plötzlich, dass Melanie ihre Blicke erwidert und sie nun ihrerseits zu beobachten beginnt. Ein paar Mal sehen sie sich kurz in die Augen, doch jedes Mal schaut Melanie so schnell wieder weg, dass es Mirjam unmöglich ist, den Ausdruck in ihrem Gesicht näher zu bestimmen. Was geht in ihr vor?

Und dann, völlig aus dem Nichts, hört Mirjam sie sprechen. Leise zwar, allerdings mit deutlich hörbarer Bitterkeit in der Stimme.

„Wie geht's eigentlich Jolina?"

Bei der Frage stolpert Mirjam beinahe über eine Baumwurzel auf dem Weg vor sich, fängt sich jedoch im letzten Moment. Jolina? Wie kommt Melanie denn plötzlich darauf? Ganz zu schweigen davon, dass sie grade jetzt aus heiterem Himmel so ein Gespräch anfängt, als wären sie grade nicht in Lebensgefahr und hätten Todesangst.

„Ähm, ich...äh...keine Ahnung? Ihr habt doch bestimmt regelmäßig Kontakt, warum fragst du mich das?"

Doch da lacht Melanie nur bitter auf und irgendwas daran schmerzt Mirjam in den Ohren.

„Pff. Glaubst du echt, ich will mit der noch Kontakt haben, nach allem, was die abgezogen hat? Die kann mich mal, aber sowas von!"

Moment, was? Mirjam runzelt die Stirn. Was soll das jetzt bedeuten? Was hat Jolina abgezogen? Ein mulmiges Gefühl breitet sich plötzlich in ihr aus. Ein Gefühl, das sie nicht benennen kann, was ihr jedoch Unbehagen bereitet. Was sollen diese kryptischen Äußerungen von Melanie?

„Was genau meinst du? Ist...irgendwas passiert zwischen euch?"

Bei diesen Worten scheint sich ihr ungutes Gefühl zu bewahrheiten, denn nun hört Mirjam sogar leichte Wut in Melanies Antwort.

„Tu' doch nicht so scheinheilig! Du weißt genau, wovon ich spreche. Immerhin habt ihr drei doch alles daran gesetzt, um mich loszuwerden – Jolina, Louisa und du. Wegen euch ist unsere Freundschaft kaputt gegangen damals!"

WOLVES - the secrets we remember || BAND 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt