Kapitel 15

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Vier Jahre zuvor

In der Woche bevor Leon ging, begann er, sich anders zu benehmen.

Die Nachricht darüber, dass er und seine Eltern mit ihrem Blumenladen in ein kleineres Ladengebäude ziehen mussten, hatte mich zuerst noch härter getroffen, als ihn – zumindest schien es so. Er hatte mir die Neuigkeit in seiner üblichen nichtssagenden Nüchternheit überbracht. Ganz plötzlich. Ohne Vorwarnung.

„Lou, wir ziehen um."

Zuerst war ich aus allen Wolken gefallen, doch später, als ich genauer darüber nachgedacht und Leon über alle Einzelheiten ausgefragt hatte, sah die Sache für mich doch recht einfach aus.

„Dann bleibt doch eigentlich alles wie es ist, oder nicht? Wenn deine Eltern dann doch nur den Laden woanders haben."

„Es ist nicht nur der Laden, Lou", hatte Leon dann jedoch klargestellt und mich lange angesehen. „Wir gehen auch."

Erst dann war die ganze Bandbreite dieser Neuigkeit vollständig zu mir durchgedrungen. Leon würde mit seinen Eltern auch in eine neue Wohnung ziehen, weil der neue Blumenladen in einem anderen Stadtteil lag. Das hieß, er würde auch die Schule wechseln. Und von hier weggehen.

Von da an wurde alles irgendwie anders. Zumindest für mich. Während ich mich mehr und mehr der Tatsache zu stellen versuchte, dass Leon bald nicht mehr da war – zumindest nicht mehr jeden Tag einfach so erreichbar – und die nagende Traurigkeit und Niedergeschlagenheit deswegen so gut wie möglich auszublenden versuchte, benahm sich Leon eigentlich so wie immer. Er war da, unscheinbar und still, aber trotzdem da für mich, wenn ich ihn brauchte. Er sagte nicht viel, höchstens mal ein oder zwei Worte innerhalb einer ganzen Pause. Wir beide trafen uns regelmäßig, sprachen über Gott und die Welt und alles Mögliche – bloß nicht über die Tatsache, dass er bald umziehen würde. Es war, als würde dieser Umzug gar nicht existieren, oder besser gesagt: als wollte Leon mich und auch sich selbst glauben machen, dass er nicht existierte. Und irgendwie schaffte er das auch fast.

Bis zu besagter Woche vor dem Umzug.

Plötzlich wurde er schweigsamer, zurückhaltender – falls das überhaupt noch möglich war. Er zog sich zurück, verschanzte sich hinter einer Mauer, hinter der es selbst mir immer schwerer fiel, ihn zu erreichen. Stattdessen spürte ich immer öfter, wie er mich mit eindringlichen Blicken musterte, wann immer er glaubte, dass ich es nicht bemerkte. Immer wenn ich seinen Blick dann erwiderte, drehte er sich weg, als sei nichts gewesen. Und ich registrierte das mit einem leichten Stich, denn ich wusste nicht, wie ich das nun wieder deuten sollte.

Er kam auch seltener in die Schule, was jedoch damit zu tun hatte, dass er seinen Eltern im Laden helfen musste, die letzten Sachen auszuräumen. Was allerdings auch dazu führte, dass wir uns fast gar nicht mehr sahen, denn außerhalb der Schulzeit war er natürlich ebenfalls dort beschäftigt. Einmal ging ich nachmittags sogar zu ihm, um meine Hilfe anzubieten, doch anstatt ihn traf ich nur seine Mutter an, die mich freundlich aber bestimmt wieder nach Hause schickte, weil Leon beschäftigt sei. Dennoch hatte ich das untrügliche Gefühl, dass Leon auch ein Stück weit versuchte, meine Nähe zu meiden, hatte allerdings keinen blassen Schimmer, warum. In der Schule klagte ich meinen Freundinnen mein Leid, doch die wussten auch nichts dazu beizutragen, außer mich zu trösten. Und ich? Ich konnte nichts tun, außer mit einem immer stärker werdenden Schmerz in meinem Innern Leons letztem Schultag entgegenzublicken, der schneller näherkam, als mir lieb war.

An jenem Tag erschien Leon wieder nicht. Natürlich war ich enttäuscht, obwohl ich tief in mir drin nichts anderes erwartet hatte. Als ich auf dem Weg von der Schule nach Hause hoffnungsvoll beim Blumenladen vorbeiging, um ihn vielleicht noch ein letztes Mal anzutreffen und mich von ihm zu verabschieden, versperrte ein riesiger Umzugswagen fast die komplette schmale Straße. Ich sah nur Leute herumwuseln und Dinge durch die Gegend tragen, doch von Leon keine Spur. Niedergeschlagen ging ich nach Hause, wissend, dass ich wieder nur gestört hätte, wenn ich einfach hineingegangen wäre und fragte mich im Stillen mit leicht aufflammendem Ärger, wie Leon sich das nun eigentlich vorgestellt hatte. Meinte er wirklich, er könnte jetzt – nachdem wir immerhin sechs Jahre befreundet waren – einfach sang- und klanglos verschwinden? Diese Frage beschäftigte mich auch zuhause für den Rest des Nachmittags und mit der Zeit wurde ich wirklich langsam sauer auf Leon.

Bis es irgendwann klingelte und er vor unserer Haustür stand. Er stand draußen, beschienen vom blassen Licht der untergehenden Märzsonne und blickte mich mit seinen typischen großen, braunen Augen an. Und meine Wut verflog.

„Hey."

„Hey."

Eine Weile herrschte Schweigen und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Die ganze Zeit über hatte ich mit ihm reden wollen und nun wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Alle Worte waren weg, verloren in der Unendlichkeit des Augenblicks.

„Wir fahren gleich", erklärte er schließlich, nüchtern wie immer. Lediglich seine Stimme, die kaum zu hören war, verriet mir, dass das hier für ihn genauso schwer war, wie für mich.

„Ich weiß", sagte ich, unfähig, irgendetwas Geistreicheres hervorzubringen. Es gab so vieles, was ich ihm sagen wollte; was ich ihn fragen wollte. Aber es war nichts da in meinem Kopf. Nur dieser Schmerz in meinem Innern, der mit jeder Sekunde stärker wurde.

„Wir bleiben in Kontakt", kam es wieder von ihm und diesmal hatte sein Blick etwas Fragendes. „Oder?"

„Klar!" Ich trat aus der Tür, sodass ich ganz vor ihm stand und zu ihm hochblicken musste. Er war gewachsen in den letzten zwei Jahren. Und endlich kamen auch die Worte. „Wir schreiben. Wir telefonieren. Und wir können uns natürlich auch treffen. Ich bin für dich da. Okay?"

Er sah mich an, hielt mich lange mit seinem Blick fest und nickte. Dann blickte er abrupt zur Seite und senkte die Augen.

„Ich wünschte, ich könnte hierbleiben", murmelte er und ich musste mich ein wenig vorbeugen, um ihn zu verstehen, weil er so leise redete. „Ich will keine neuen Freunde. Die fangen doch eh wieder alle an, mich zu mobben. Du weißt schon, warum."

Ich fasste seinen Arm. „Hey, das wird schon." Er schüttelte den Kopf, doch ich hielt vehement dagegen.

„Du findest neue Freunde, okay? Coole Freunde, die dich nicht hänseln."

„Freunde, wie dich?", fragte er und ich musste schmunzeln.

„Vielleicht." Da lachte er endlich und in diesem Moment wünschte ich mir, diesen Augenblick für immer aufbewahren zu können. In einem Marmeladenglas zum Beispiel, das man wieder öffnet, wenn man diesen Moment vermisst. Genau diesen Moment hier mit Leon bei uns in unserer kleinen ruhigen Straße mit dem orangen Sonnenlicht, das sich in den Fenstern spiegelte und unsere Silhouetten bunt nachzeichnete. An diesen Moment würde ich mich ewig erinnern.

„Mal sehen", erwiderte Leon dann leise. „Bleibt mir ja scheinbar nichts anderes übrig, als wieder neu anzufangen."

„Du schaffst das", sagte ich leise und da fiel mir etwas ein. „Denk an die Schmetterlinge. Weißt du noch? Aus allem kann etwas Schönes werden, auch wenn es noch so hart ist."

Er sah mich an, dann nickte er langsam. „Man muss sich nur trauen.", sagte er leise. „Wie die Raupe."

„Genau." Ich nickte, berührt davon, dass er das nach all den Jahren nicht vergessen hatte.

Und dann tat Leon etwas, was er noch nie getan hatte. Er kam einen letzten Schritt auf mich zu, beugte sich den halben Kopf zu mir herunter, um den er mich mittlerweile überragte und umarmte mich. Ich war überrascht und zugleich begann es bei dieser unerwarteten Geste in meinen Augen zu brennen. Ich kniff sie zu, schlang meine Arme fest um Leon und vergrub meine Nase in seinem Pullover, gemeinsam mit ihm versinkend in dieser kleinen Ewigkeit, wissend, dass es das erste und wahrscheinlich auch vorerst das letzte Mal war, dass wir uns so nah waren.

Und als ich grade glaubte, dass es nun vorbei war, da tat er noch etwas. Er löste sich halb von mir, sah mich kurz mit unergründlichem Blick an und dann...küsste er mich. Einfach so, ganz plötzlich und so kurz, dass es mir vorkam, wie ein Blitz inmitten der dunklen Wolken eines Sommergewitters. Und genauso blendend wie das Licht, genauso prickelnd wie der warme Regen war die Berührung seiner Lippen. Und laut wie der Donner klang das Trommeln meines Herzens in meinen Ohren, als er sich von mir löste und mich ein letztes Mal ansah.

Dann ging er und ich blickte ihm nach, in meinen Gedanken das reinste Chaos und doch wissend, spürend, dass das was wir hatten in uns beiden für immer bestehen würde.

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Und schon wieder ein Rückblick. Diesmal ein besonders emotionaler. Was haltet ihr von dem Kapitel? Lasst es mich hören 👇
Und wenn es euch gefällt, lasst wie immer gerne ein vote da. <3

WOLVES - the secrets we remember || BAND 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt