Wie ein Schluck Wasser hocke ich am Rand der Lichtung, meinen Kopf auf Mirjams Schulter gelegt und starre unbeweglich geradeaus. Starre und sehe doch nichts. Viel zu sehr bin ich von den Vorgängen in meinem Innern vereinnahmt, die vor allem damit beschäftigt sind, das, was ich zuvor mit ansehen musste, wie einen grauenvollen Film vor meinem inneren Auge abspielen zu lassen. Ronja, wie sie ihre beste Freundin niederschlägt. Die Szene wiederholt sich immer und immer wieder. Und ich kann es nicht abstellen.
Scheinbar war ich vorhin nur für ein paar Sekunden weg gewesen – als ich die Augen wieder aufschlug, hatte ich mich auf dem Boden wiedergefunden und meine Gedanken waren wieder unangenehm klar gewesen. Wäre es nach mir gegangen, hätte mich die Schwärze ruhig noch etwas länger verschlucken können.
Auf der Lichtung ist es gespenstisch ruhig. Nach Friedas Tod war erstmal wieder das Chaos ausgebrochen – alle haben durcheinandergeredet, geschrien, diskutiert, geweint. Ein unerträgliches Stimmenwirrwarr. Schließlich hatten die, die noch einigermaßen bei klarem Verstand waren, dafür gesorgt, dass Ronja rausflog. Ronja hatte die Rolle des Jägers gehabt und so musste schlussendlich auch Lukas das Spiel verlassen.
Irgendwann danach war dann plötzlich alles ruhig geworden, die Stimmen der anderen waren zu leisem Murmeln zusammengeschrumpft und alle hatten sich zwischen die Sträucher am Rand der Lichtung zurückgezogen. Als hätten wir alle stillschweigend vereinbart, jeder für sich das zu verdauen, was grade geschehen ist. So ist das Einzige, was ich vernehme, das vereinzelte Knacken von Zweigen und leises Geflüster. Wispern, das sich mit dem Rauschen des Windes vermischt, der leicht durch die Nadeln der Tannen weht und mit uns zu reden scheint. Als wäre der Wald ein Tier, das auf der Lauer liegt; uns einzulullen versucht mit seinen Geräuschen und nur darauf wartet, uns verschlingen zu können. Aus Ronjas Ecke höre ich leises Schluchzen.
Ich seufze und kann nicht verhindern, dass meine Augen kurz an der Stelle hängen bleiben, an der Frieda bis vor ein paar Minuten gelegen hat. Ihr Körper ist verschwunden, genau wie die anderen zuvor, lediglich auf den Steinen, auf die sie mit dem Kopf geknallt ist, zeugt ein etwas größerer dunkler Fleck davon, dass sie wirklich existiert hat.
Wo soll das alles bloß hinführen?
Die Schulter, auf der mein Kopf liegt, zuckt leicht und Mirjam seufzt tief. „Ich weiß es nicht."
Hab ich diese Frage tatsächlich laut ausgesprochen? Scheinbar. Langsam richte ich mich auf und werfe ihr einen Blick zu, während ich meinen Rücken strecke. Mirjam blickt stur geradeaus. Allerdings bemerke ich erst jetzt ihre gerunzelte Stirn und den angespannten Ausdruck in ihrem Gesicht. Konzentriert kaut sie auf ihrer Unterlippe und es scheint, als sei sie mit ihren Gedanken komplett woanders. Sanft fasse ich sie am Arm.
„Woran denkst du?"
Bis ich eine Antwort bekomme, dauert es ein wenig und ich rechne schon damit, gar keine mehr zu bekommen, doch da holt Mirjam tief Luft.
„Weißt du, ob...Jolina irgendwann mal ein Buch hatte? Ein schwarzes Buch, das sie als Tagebuch benutzt hat?"
„Ein Tagebuch?" Bei dem Wort in Zusammenhang mit Jolinas Namen muss ich entgegen der Situation in der wir uns grade befinden, beinahe lachen. „Als ob Jolina jemals Tagebuch geschrieben hat. Also, ich kann mich nicht erinnern, dass sie sowas irgendwann mal hatte – ganz zu schweigen davon, dass ich mir das bei ihr einfach nicht vorstellen kann. Warum fragst du?"
„Ich weiß nicht..." Mirjam schüttelt leicht den Kopf. „Melanie hat mir von so einem Buch erzählt, das Jolina schon seit Ewigkeiten haben soll. Ein Buch in das sie alles Mögliche reinschreibt. Sie meinte, es bedeute ihr sehr viel."
Ich stutze kurz und versuche mich zu erinnern, ob Jolina so ein Buch nicht tatsächlich gehabt haben könnte und ich es nur einfach vergessen habe. Doch Mirjams bohrender Blick jagt plötzlich ein leichtes Prickeln über meine Arme, das mir verrät, dass ich mich nicht irre: meines Wissens nach hat Jolina nie solch ein Buch besessen. Mit einem frustrierten Seufzer wendet sie sich ab und ich kann den leichten Anflug von Unruhe nicht unterdrücken, der mich dabei überkommt. Was hat Melanie ihr erzählt?
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WOLVES - the secrets we remember || BAND 2
KorkuBAND 2 der "WOLVES"-Trilogie _________________________________________ Zweiundzwanzig Schüler. Ein Klassentreffen. Ein Feuerplatz im Wald. Und ein tödliches Spiel, das die Geister der Vergangenheit wieder heraufbeschwört... Ein Treffen mit der alten...