Kapitel 2

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Zehn Jahre zuvor

An den Tag, an dem ich Leon zum ersten Mal sah, werde ich mich wohl immer erinnern – obwohl es rückblickend eigentlich ein Tag war wie jeder andere.

Das Licht der Morgensonne schien warm in unseren Klassenraum, als ich mich mit meinem riesigen Schulranzen zu meinem Platz in der zweiten Reihe schleppte. Der Raum war im Vergleich zu sonst noch relativ leer. Ich zuckte mit den Schultern und begann, meine Sachen auszupacken und alles fein säuberlich auf meinem Tisch zu drapieren. Vielleicht lag es daran, dass es der erste Schultag nach den Ferien war. Oder – und das glaubte ich eigentlich eher – es lag ganz einfach daran, dass ich überpünktlich war. Mit einer gewissen Aufregung legte ich mein Deutschheft auf den Tisch, auf das ich mit einem schwarzen Stift meinen Namen und meine Klasse geschrieben hatte: Louisa Marie Wolff – Klasse 2b. Man kam immerhin nur einmal in seinem Leben in die zweite Klasse!

Als ich wieder aufblickte, sah ich meine Klassenlehrerin Frau Finke in den Raum kommen. Doch anders als sonst nickte sie mir nicht freundlich zu, stattdessen schien sie vollauf mit etwas beschäftigt zu sein, was sich draußen vor der Tür befand. Oder besser gesagt: mit jemandem. Gleich darauf betrat nämlich eine weitere Frau den Raum. Und ehe ich mich überhaupt fragen konnte, wer sie war, wurde meine Aufmerksamkeit vollständig von ihrer Erscheinung in Beschlag genommen.

Sie war groß und dünn und hatte braune Locken, die sie in einem Dutt zusammengebunden hatte, aus dem sich allerdings bereits einige Strähnen lösten. Ihre Kleidung sah nicht schäbig aus, doch man konnte sehen, dass es nicht unbedingt die neuesten und teuersten Klamotten waren. Auf ihrem T-Shirt konnte ich Flecken erkennen, die aussahen wie getrocknete Erde und ihre Hosenbeine waren an den Stellen wo ihre Knie waren bereits sehr verblichen. Ich selbst fand es nicht schlimm, doch ich konnte sehen, dass sich einige meiner Mitschüler, die mittlerweile ebenfalls eingetroffen waren, Blicke zuwarfen und hinter vorgehaltener Hand tuschelten.

„Wer ist das denn?", hörte ich plötzlich eine Stimme dicht neben mir und ich schreckte zusammen. Mirjam hatte sich neben mich auf ihren Stuhl fallen lassen, pfefferte ihren Schulranzen neben sich und starrte mit gerunzelter Stirn nach vorne zu der Frau.

„Erschreck' mich doch nicht so!", beschwerte ich mich und funkelte meine beste Freundin wütend an. Die wusste allerdings genau, dass sie meinen Blick nicht ernst zu nehmen brauchte und grinste lediglich kurz in meine Richtung. Dann wanderte auch ihre Aufmerksamkeit wieder nach vorn.

„Kriegen wir einen neuen Mitschüler?"

Erst jetzt bemerkte ich den kleinen Jungen, den die Frau an der Hand hielt. Mit großen dunkelbraunen Augen blickte er durch die Klasse, nahm ganz offensichtlich jedes kleine Detail in sich auf. Als sein Blick bei mir landete, war mir, als würde ich mit voller Wucht gegen eine Wand rennen, denn es lag eine unheimliche Verschlossenheit darin. Ich schluckte und versuchte mich davon abzulenken, indem ich über Mirjams Frage nachdachte. Irgendwie war ich mir bei der Antwort darauf nicht ganz sicher – der Junge war fast einen Kopf kleiner als wir anderen und wirkte ziemlich schmächtig. Er sah viel jünger aus als wir.

Als ich Mirjam jedoch grade an meinen Gedanken teilhaben lassen wollte, verabschiedete sich die fremde Frau mit einem Kuss von dem Jungen und verschwand mit einem letzten Winken durch die Tür. Frau Finke nahm ihn bei der Hand und trat vor die Klasse.

„Guten Morgen, ihr Lieben. Herzlich Willkommen im neuen Schuljahr, ich hoffe, ihr hattet alle schöne Ferien.", begann sie lächelnd. „Wie ihr seht, habe ich euch hier jemanden mitgebracht. Leon Maler wird ab sofort mit in eure Klasse gehen."

„Der Kindergarten ist aber doch eine Straße weiter", krähte eine Stimme aus dem hinteren Teil des Raums und alle Blicke schnellten zu einem Jungen in der letzten Reihe. Seine Worte lösten allgemeines Gelächter aus, doch den Jungen vorne bei Frau Finke, Leon, schien das nicht groß zu beeindrucken. Er starrte lediglich mit nach wie vor verschlossenem Gesichtsausdruck zurück.

WOLVES - the secrets we remember || BAND 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt