Kapitel 10

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Sieben Jahre zuvor

Die warme Septembersonne fiel durch die Fenster in unser Klassenzimmer und malte helle Streifen auf die Tische und den Boden. Es war früher Nachmittag und die Wärme, die sich im Raum ausbreitete, machte mich schläfrig. Ich unterdrückte ein Gähnen. Das neue Schuljahr hatte vor knapp einem Monat begonnen und meine Erwartungen an die weiterführende Schule hatten sich ziemlich schnell zerschlagen. Ich hatte mir das Ganze deutlich spannender vorgestellt. Nicht so...anstrengend.

Mit einem tiefen Durchatmen stützte ich mich mit verschränkten Armen auf meinen Tisch und starrte zur Tafel, ohne auch nur ein Wort von dem, was dort mit weißer Kreide geschrieben stand, wirklich zu lesen. Währenddessen bedauerte ich die Tatsache, dass es niemanden gab, mit dem ich mir die restliche Zeit bis zum Klingeln hätte vertreiben können. Was vornehmlich daran lag, dass unsere neue Klassenlehrerin, Frau Weiland, die neue Sitzordnung prompt so organisiert hatte, dass wir möglichst nicht neben unseren Freunden aus der Grundschule saßen. Sie meinte, dass sei die beste Möglichkeit, sich gegenseitig kennenzulernen und neue Bekanntschaften zu machen. Was hieß, dass ich entgegen meiner Hoffnung, neben Mirjam und Leon oder wenigstens noch Mila, Emily, Yannick oder Timo zu landen, die mit uns die Klasse gewechselt hatten, nun neben einem Mädchen namens Charlotte saß.

Ich war mir noch nicht wirklich sicher, ob ich das gut fand. Charlotte war zwar ganz nett und ich glaubte auch, dass ich mich mit ihr gut verstehen würde, aber es war eben nicht dasselbe, wie mit Leon und Mirjam. Vorsichtig drehte ich den Kopf und begegnete auch sofort Mirjams frostigem Blick, die in der Reihe parallel zu mir saß, jedoch durch den Mittelgang von mir getrennt war. Es war kein Geheimnis zwischen uns beiden, dass sie nicht nur mit der Sitzordnung unzufrieden war, sondern auch mit unserer neuen Klassenlehrerin. Verübeln konnte ich ihr das nicht wirklich – im Gegensatz zu Frau Finke, die immer freundlich und ausgesprochen geduldig mit uns gewesen war, wirkte Frau Weiland jeden Tag so, als sei ihr eine Laus über die Leber gekrochen. Und wir hatten alle bereits gelernt, dass wir ihren ohnehin schon beachtlich kurzen Geduldsfaden besser nicht allzu sehr strapazierten – früher als uns lieb war.

Leise seufzte ich. Die Deutschstunde zog sich nun schon endlos lang und meine Langeweile besserte sich kein Stück, als ich daran dachte, dass wir heute auch noch eine Doppelstunde hatten. Wehmütig erinnerte ich mich daran, dass mich früher wenigstens Leon oder Mirjam bei so etwas daran gehindert hatten, kurzerhand mit dem Kopf auf dem Tisch einzuschlafen.

Just in dem Moment spürte ich, wie etwas kleines Raschelndes hinten gegen meine Schulter prallte. Ich zuckte zusammen und drehte leicht den Kopf. Ich traute mich nicht, mich vollständig umzudrehen, weil Frau Weiland mit ihrer riesigen Brille einfach alles sah.

„Guck auf den Boden", wisperte eine Stimme hinter mir. Innerlich verkrampfte ich mich und schielte nervös zu Frau Weiland. Leon hatte vielleicht Nerven! Suchend ließ ich die Augen über den Boden schweifen und entdeckte tatsächlich ein kleines zusammengefaltetes Papierchen neben meinem Stuhl. Möglichst unauffällig und leise hob ich es auf und faltete es auseinander.

Schwänzen?

Ich unterdrückte ein Stöhnen und verdrehte die Augen. Wenn man vom Teufel sprach. Meinte er das ernst? Vorsichtig drehte ich mich wieder halb nach hinten und schielte zu ihm. Postwendend kam ein weiterer Zettel geflogen.

5 min. Pause. Bei den Toiletten.

Ich ließ mich gegen meine Stuhllehne sinken. Ich hatte noch nie geschwänzt und eigentlich auch gedacht, dass ich das niemals in meinem Leben tun würde. Mein Schuldbewusstsein pikste mich mahnend in die Seite, als ich erst zu Frau Weiland und dann nach rechts zu Mirjam schielte. Ich biss mir auf die Unterlippe. Aber andererseits hatte ich auch echt keine Lust mehr, hier noch weiter zu sitzen. Ich grübelte und konnte nicht verhindern, dass sich in meinen Bauch ein dicker Knoten bildete. Als es schließlich zur Fünfminutenpause klingelte, schreckte ich richtig zusammen. Um mich herum begannen die anderen zu reden und ein paar standen auf um sich die Beine zu vertreten.

WOLVES - the secrets we remember || BAND 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt