Kapitel 11

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Mirjam

„Melanie!"

Der Ruf verlässt Mirjams Lippen, obwohl sie schon fast keine Hoffnung mehr darauf hat, dass er wirklich ankommt. Vielmehr wird er von der tintenhaften Schwärze des Waldes verschluckt, die an ihr vorbeizieht, wie ein Tier, das sie nicht sehen kann, aber dessen Fell sie deutlich an sich entlangstreichen fühlt.

„Melanie, bleib stehen!"

Ihre Stimme bricht ab und sie spürt, wie ihre Ausdauer mehr und mehr erschöpft wird. Das silbrig helle Band blonder Haare weht vor ihr her, nur knapp außer Reichweite, immer einen Schritt voraus. Sie kann sie nicht erreichen.

Doch plötzlich knackt es im Dunkeln vor ihr und ehe Mirjam es sich versieht, knallt sie mit voller Wucht in einen schmalen Körper hinein. Melanie schreit laut auf und Mirjam kann sich nur knapp beherrschen, nicht ebenfalls vor Schreck und Schmerz zu kreischen. Dann trifft sie auf dem Boden auf und für einen Moment tanzen Sternchen vor ihren Augen. Stöhnend richtet sie sich auf und hält sich den Kopf. Sie hat sich an irgendetwas gestoßen und es tut verdammt weh.

Im nächsten Augenblick hört sie ein leises Keuchen neben sich und ihre Wahrnehmung schärft sich, als hätte sie diesen Weckruf gebraucht. Mirjam blinzelt mehrmals hintereinander, als könne sie die Dunkelheit absurderweise damit verscheuchen, doch natürlich bringt es nichts. Blind beginnt sie zu tasten, bewegt ihre Hände in die Richtung des Geräuschs und endlich, endlich bekommen ihre Finger ein dünnes Handgelenk zu fassen. Ein erschrockenes Zucken lässt sie erzittern, dann folgt ein erneuter spitzer Aufschrei.

„Pssst, Melanie, ich bin's!"

„Wer? Wer bist du? Lass' mich los!"

„Mirjam. Ich bin Mirjam!" Mirjam versucht, ihre Stimme so leise und sanft wie möglich klingen zu lassen, doch das unruhige Beben in ihrem Innern macht das beinahe unmöglich. Sie ist sich sicher, dass Melanie ihr die Anspannung deutlich anhört.

„Was-was machst du hier? Warum bist du mir gefolgt?"

„Weil du grade offensichtlich die Kontrolle verloren hast."

„Kontrolle?" Melanies Stimme ist bei diesem Wort so leise, dass Mirjam sich zu ihr hin beugen muss, doch schon in der nächsten Sekunde zuckt sie erschreckt zurück, als Melanie wieder zu schreien beginnt. „Du redest von Kontrolle? Wir fangen alle aus irgendeinem Grund an, uns nacheinander gegenseitig umzubringen; die Kontrolle ist doch schon längst nicht mehr da!"

Aus Angst, sie würde sich wieder losreißen, umklammert Mirjam Melanies Handgelenk so fest, dass sie schon überzeugt ist, ihr ernsthaft wehzutun. Irgendwas muss sie tun, um Melanie wieder aus ihrem Wahnsinn zurückzuholen. Sie hat zwar vollkommen Recht mit dem, was sie sagt. Bei ihren Worten muss Mirjam selbst alle Kraft aufbringen, um nicht die Beine in die Hand zu nehmen, und einfach davonzulaufen, so erschreckend zutreffend sind sie. Aber um das alles durchzustehen, müssen sie sich einfach zwingen, logisch zu denken. Denk logisch! Diesen Satz betet sie in ihrem Kopf vor und zurück und hofft, dass es dadurch leichter wird.

Als sie jedoch grade Luft holt, um irgendetwas hoffentlich einigermaßen Sinnvolles zu Melanie zu sagen, da knackt es erneut im Unterholz und aufgeregte Mädchenstimmen kommen näher.

„Hey", keucht eine von ihnen und Mirjam spürt Hände, die nach ihr tasten. Allmählich gewöhnen sich ihre Augen an die Dunkelheit und sie erkennt zumindest einen Schemen des Gesichts, das sich ihr nähert. Mila mustert sie mit flackerndem Blick. „Mirjam, seid ihr das?"

Mirjam bekommt in diesem Moment lediglich ein Nicken zustande, obwohl sie weiß, dass Mila das mit ziemlicher Sicherheit nicht sehen kann, doch sie fasst mit der anderen Hand nach der von Mila und das scheint Antwort genug zu sein.

WOLVES - the secrets we remember || BAND 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt