Kapitel 9 - Die Wahrheit

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Als Elea erwachte, wurde sie unbarmherzig von der Sonne geblendet. Sie wollte ihren Arm heben, um ihre Augen zu bedecken, aber sie konnte ihn nicht bewegen. Zudem war er mit Bandagen von der Schulter bis zum Handgelenk verbunden, sodass sie verhinderten, dass sie ihn beugen konnte. Ihr ganzer Körper fühlte sich merkwürdig taub und von Morphium vollgepumpt an. Jeder einzelne Muskel wirkte wie gelähmt. Vage Erinnerungen traten in ihr Gedächtnis, wie ein schon vor langer Zeit vergessener Traum, und ließen sie erschaudern, obwohl sie keinerlei Sinn ergaben. Lautes Gekläff, Brüllen und Schreie dröhnten in ihrem Kopf. Auf einmal träumte sie von ihrem Bruder Connar. Sie wusste nicht, ob dies nur ein Traum oder eine Erinnerung war, da sie sich nicht daran erinnern konnte, es ihr aber so real vorkam. Ihr Bruder versuchte verzweifelt, sein Bein unter einem Baum herausziehen, damit er sich vor einem schwarzen Wolf in Sicherheit bringen konnte. Seine Hilferufe übertönten alle anderen Geräusche und hallten wie ein endloses Echo in ihrem Kopf wider. „Connar!" rief sie plötzlich und schoss panisch hoch. Ein brennender Schmerz brach in ihrer Magengegend aus und fraß sich durch ihren ganzen Körper. Vor Schmerzen zuckte Elea zusammen und atmete zwischen zusammen gebissenen Zähnen scharf ein und aus. Sie fühlte sich, als ob ihr gesamter Körper in Flammen stehen würde. Ihre Hände landeten auf dem Bauch, als die Schmerzen dort unerträglich wurden. Verwundert ertasteten ihre Finger einen dicken Verband um ihre Taille. „Hallo? Ist hier jemand? Bitte ... irgendjemand...?" Verzweifelt blickte sie sich im Raum um. Das Fegefeuer aus Schmerz raubte ihr für wenige Sekunden das Augenlicht. Als es aber wiederkehrte, erkannte sie, dass sie auf einer Art Krankenliege lag. An den Wänden des Zimmers standen Regale, in denen unzählbar viele Fläschchen mit irgendwelchen Flüssigkeiten und Körbe voller Kräuter aufbewahrt wurden. Die Fenster waren weit geöffnet, sodass Sonnenlicht und der Geruch von Kiefern ins Zimmer gelangten. Elea spähte durch eines der offenen Fenster und erkannte einen üppigen Wald voller Nadel- und Laubbäumen. Die Vögel zwitscherten ausgelassen. Der fröhliche Vogelgesang passte zu den kindlichen Klängen des Windspiels, das über der Krankenliege hing. „Kara?" fragte eine helle, freundliche Stimme. Elea drehte sich reflexartig um und erblickte ein Mädchen, das etwas älter als sie zu sein schien. Sie trat durch eine Tür. Ihr unwirkliches, aber trotzdem wunderschönes Aussehen wurde von den Sonnenstrahlen verstärkt. Das Mädchen hatte eine elfenähnliche Gestalt, leuchtend blaue Augen und langes, silberblondes, beinahe weißes Haar, das sie halboffen trug, sodass man ihre leicht spitz zulaufenden Ohren erkennen konnte. Sie trug eine hellviolette Tunika und ein Gürtel war um ihre schmale Taille geschnallt, an dem einige gefüllte Beutel hinabhingen. „Du musst schlafen, um dich von deinen Verletzungen zu erholen. Sie sind sehr tief und schwer zu heilen" sagte sie und trat näher an die Krankenliege. „Du hast sehr viel Kraft verloren. Du bist noch nicht so weit. Versuch zu schlafen." „Nein!", Elea blickte sie panisch an, „Ich-ich muss zurück ... zurück nach Arrowen, bitte! Mein Bruder und meine Freunde ... sie ... sie sind in Gefahr! Bitte, ich muss zu ihnen!" Die Schmerzen explodierten förmlich in ihrem Körper. Sie krallte ihre Hände in die Bandagen des Verbandes und hätte beinahe laut aufgeschrien. In Eleas smaragdgrünen Augen sammelten sich Tränen, die ihr die Sicht nahmen. Das Mädchen schüttelte sachte den Kopf und legte sanft ihre zierliche, gebräunte Hand an Eleas kreidebleiche Wange. „Sanitatem Somnum" flüsterte sie. Aus ihren Fingerspitzen kam eine wohlige Wärme, die sich wie der Frühling anfühlte. Sie und eine plötzlich aufkommende Entspannung hüllten Elea ein. „Nein, bitte ..." Sie versuchte gegen dieses Gefühl anzukämpfen. „I ch ... muss ... zurück..." Ihre Augenlider wurden schwerer und sie sank ins weiche Kissen zurück. Der Schmerz wurde dumpfer. Die schrecklichen Traumbilder wichen einem pastellfarbenen Meer aus sanft ineinander übergehenden Wellen. Die Schreie verstummten. Nur noch das Rauschen des Meeres war zu hören...

Kara - Das Herz der ElfenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt