Kapitel 11: Die letzten Erinnerungen

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Es war nun schon drei Tage her, seit dem Kara das Fläschchen mit dem letzten Atemzug ihrer Mutter erhalten hatte. Sie wusste nicht wirklich, was sie davon abhielt, die Phiole endlich zu öffnen. Vielleicht war es die Angst vor dem, was sie sehen würde? Möglicherweise hatte ihre Mutter in den letzten Stunden ihres Lebens etwas erlebt oder getan, das sie lieber nicht wissen wollte. Oder war es doch die Angst vor dem Gedanken, dass es danach für Kara kein Zurück mehr gab? Das Unwissen über den Tod ihrer leiblichen Mutter, war das Letzte, das sie noch von ihrer richtigen Herkunft, ihrer Aufgabe und ihrem wahren Ich trennte. Nachdem sie dieses Wissen erfahren hätte, müsste sie endgültig akzeptieren, dass sie weitaus mehr als die Jägerstochter Elea war und dass sie nie wieder so ein Leben führen könnte. Kara würde in Zukunft die Verantwortung über ein ganzes Königreich besitzen oder auf der Flucht vor den Obsidianern sein. In so einem Leben war kein Platz mehr für die alten Kindheitsträume und das Leben von Elea. Mit der Zeit würde sie die meisten Erinnerungen an dieses Leben vergessen haben und vielleicht war es das, was zwischen ihr und dem Fläschchen stand. Egal, was es war, es brachte sie dazu, sich noch nicht bereit für das Danach zu fühlen. Sie hatte das Fläschchen in ihrem Nachttisch verstaut, da das bläuliche Leuchten sie beim Schlafen störte. Seit gestern Nacht meinte sie, leises Geflüster aus dem Gefäß zu hören. Diese Stimmen hörte sie auch in diesem Moment. Ausgestreckt lag sie auf ihrem Bett und dachte grübelnd nach, während sie auf Senya wartete, die sie heute wieder mit in den Wald nehmen wollte. Den heutigen Zauberunterricht hatte Kara schon hinter sich. Kurz nach dessen Ende hatte sie Valdemar noch um einen Rat wegen den Erinnerungen ihrer Mutter gebeten. Ihr Mentor hatte ihr erklärt, dass sie sich lieber nicht von der Angst abhalten lassen sollte und endlich herausfand, was ihre Mutter ihr überliefert hatte. „Was die Zukunft für dich mit sich bringen wird, kann keiner so genau wissen", hatte der alte Zauberer gesagt. Das knarzende Geräusch der aufgehenden Dachbodenklappe weckte sie aus ihren Gedanken. Sie drehte den Kopf und erblickte Senya, die auf der Leiter stehend ins Zimmer lugte. „Ich bin fertig. Komm, lass uns losgehen" sagte sie. Kara nickte und folgte der Halbelfe.

„Oh sieh mal, Kara! Was für ein Glück wir haben" rief Senya und deutete auf eine feuerrote Blume, die sich zwischen den Blättern von zwei Büschen versteckt hatte. Senyas Schülerin hätte diese Blume übersehen, wenn ihre Mentorin sie nicht auf die Pflanze aufmerksam gemacht hätte. „Was ist das für eine Blume?" fragte Kara. „Das ist ein sogenanntes Feuerherz. Sie ist sehr selten. Aus ihrer Blüte lässt sich ein heilender Saft herstellen. Nur ein Tropfen reicht aus, um jemanden, der im Sterben liegt, zu retten und um jede einzelne Wunde am Körper zu heilen" erklärte sie. „Dann müssen wir sie pflücken und zu diesem Saft verarbeiten!" meinte sie aufgeregt. Die Heilerin nickte froh und pflückte die Blume. „Wir haben wirklich riesiges Glück." Sie verstaute die Pflanze in einer ihrer vielen Gürteltaschen. Als sie etwas später zu Hause ankamen, stellte Senya mit Karas Hilfe den heilenden Saft aus dem Feuerherz her. „Diese Blüte ist so groß, dass der Saft für zwei Phiolen reicht" erzählte Senya und befestigte die zwei Fläschchen jeweils an einem Band. „Hier. Eine kannst du haben." Sie hängte Kara die Phiole um den Hals. „Die andere behalte ich. Setzte den Saft nur ein, wenn nichts anderes mehr hilft. Denk dran, du hast nicht viel davon und das Feuerherz ist sehr selten." Ihre Schülerin beäugte die Flüssigkeit innerhalb der Phiole neugierig. Der heilende Saft hatte eine ebenso rote Farbe wie die Blüte des Feuerherzens. „Ich habe schon verstanden. Danke, Senya." Kara umarmte sie dankbar dafür, dass sie ihr eine der zwei Flaschen geschenkt hatte.

Kara - Das Herz der ElfenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt