Am nächsten Morgen suchte Kara Valdemar in der Bibliothek auf. Verborgen las er auf dem großen, bequemen Sessel in der Nische ein Buch. Er war so sehr darin vertieft, dass er Kara erst wahrnahm, als sie sich kurz räusperte. Er sah auf und ein funkeln trat in seine Augen. „Du hast also endlich das Fläschchen geöffnet und Morganas Erinnerungen gesehen" sagte er. Dies war keine Frage, sondern eine Feststellung. „Ja, aber woher weißt du das?" fragte Kara stutzig. „Das Medaillon" Er deutete auf den Anhänger ihrer Kette. „Der Stein ist kein gewöhnlicher Saphir. Er ist nämlich ein Cysalas. Scheinbar hat er einen Funken von Morganas Magie absorbiert, während du die Vision deiner Mutter erhalten hast. Ich kann ihre magische Essenz klar und deutlich spüren." „Nach der Vision habe ich den Geist von ihr gesehen. Sie hat zu mir gesprochen und gesagt, dass sie immer bei mir sein und mich beschützen wird. Vielleicht meinte sie das damit...?" „Das kann gut sein." Der Zauberer nickte. „Sie erzählte ebenfalls, dass du mir den Ring meines Vaters geben sollst, wenn ich die Wahrheit kenne. Ist er der Inhalt der Schatulle? Hast du ihn da drin verwahrt?" „Ja, das habe ich." Er legte das Buch beiseite und stand auf. „Komm, es wird Zeit, dass du sie endlich öffnest." Der alte Mann setzte sich an den großen Arbeitstisch in der Mitte der Bibliothek und nahm die Holzschatulle in seine Hand. Er bedeutete Kara, sich ebenfalls zu setzen. „Hier", er drückte die Schatulle in Karas Hand, „Der Ring ist für dich bestimmt, deshalb solltest du sie auch öffnen." Kara nickte und blickte auf die Schatulle in ihren blassen Händen. Sie hob den Deckel und öffnete sie. Auf einem kleinen, roten Kissen ruhte ein goldener Ring, der viel zu riesig war, um auf Karas Ringfinger zu passen. Der feuerrote Rubin, der in ihm eingearbeitet worden war, funkelte im Licht, das durchs Fenster hereinschien. Sie nahm das Schmuckstück in ihre Hand und betrachtete ihn. In das Metall war ein Schriftzug eingraviert. Der Ring musste wohl schon sehr alt sein, da man einen Großteil der Runenschrift fast nicht mehr lesen konnte. „Er ist ein Familienerbstück, das vor dem Untergang der Königsfamilie über Generationen von einem Herrscher Ellanons zum nächsten weitergegeben wurde." Der Zauberer sah in ihre Augen. „Und nun gehört er dir. Verliere ihn nicht, Kara. Vielleicht offenbart er dir zu einem späteren Zeitpunkt etwas, worauf du sonst nicht gekommen wärst. Abgesehen davon ist er ein ganz klarer Beweis dafür, dass du wirklich die rechtmäßige Thronerbin bist. Lord Damian wird dich sicherlich ebenfalls an deinem Aussehen erkennen, da du Morgana wie aus dem Gesicht geschnitten bist, Harrows smaragdgrüne Augen besitzt. Trotzdem könnten die anderen Ratsmitglieder von Forestina es immer noch leugnen, ohne einen sicheren Beweis." „Ich werde ihn ganz sicher nicht verlieren. Er ist neben dem Medaillon von Morgana das letzte, was ich von meinen Eltern habe." Ohne darüber nachzudenken steckte sie instinktiv den Ring auf ihren Finger. Plötzlich spürte Kara wie der Ring sich zusammen zog, kleiner wurde und nun perfekt auf ihren Finger passte. „Was ist denn jetzt passiert?" fragte sie überrascht. Sie versuchte ihn abzuziehen, aber der Ring löste sich nicht. Es war so, als würde er von einem Zauber an Karas Finger gebunden sein. „Er geht nicht mehr ab." „Der Ring hat dich als wahre Thronerbin anerkannt. Bei jedem anderen Menschen wäre er wieder vom Finger gefallen." Nachdenklich betrachtete sie den Ring. Schließlich fragte sie: „Kann man die letzten Erinnerungen von jedem, der vor den eigenen Augen stirbt, in einem Fläschchen aufbewahren?" „Nein, die meisten sterben einfach so. Sie hinterlassen nichts an ihre Nachkommen. Man benötigt Magie, die während man stirbt noch im eigenen Blut ist, um einen Teil seiner Seele und somit Erinnerungen an seinen letzten Atemzug zu binden. Dass jemand so etwas schafft, geschieht nur sehr, sehr selten." „Und woher wusstest du dann, dass meine Mutter das geschafft hat?" „Nun, als sie zum letzten Mal ausatmete, hauchte sie einen eisblauen Schein aus. Es wirkte wie Nebelschwaden, die leuchteten. In diesem Moment ist mir wieder eingefallen, dass meine Schwester dasselbe getan hatte, als sie gestorben war. Allerdings wurde ihr letzter Atemzug nicht in einem Gefäß aufbewahrt und flog so direkt zu mir. Ich wusste, dass Morgana wollte, dass du sie noch einmal sehen kannst, wenn du erwachsen geworden bist, und so habe ich ihren Atemzug in dem Fläschchen aufbewahrt." „Du hattest eine Schwester?" fragte Kara verwundert. Der Zauberer nickte. „Ja, aber sie ist auf dem Schlachtfeld gestorben, als ich noch ein junger Mann war. Ihr Name war Ilara. Sie war etwas älter als ich und wir dienten deinem Großvater, König Vargas. Wir gehörten zu den Truppen der Kampfmagier und waren einige der wenigen Menschen, die auch ohne einen Cysalas, starke Magie wirken konnten. Meine Schwester hatte mir beigebracht, meine Fähigkeiten sinnvoll einzusetzen und zu kontrollieren. Nach ihrem Tod war ich lange am Boden zerstört und kam vom rechten Weg ab. Ich beging viele schlimme Fehler." „Was für Fehler?" Karas Stimme klang unbewusst unsicher und etwas zitternd. Dies bemerkte sie aber erst, als sie ihre Frage schon gestellt hatte. Valdemar seufzte und schüttelte den Kopf. Die Antwort fiel ihm schwer. „Ich ... tötete Unschuldige, Kinder – auch wenn es Obsidianer waren – , verwüstete Landschaften und hinterließ nichts als Leid, Tot und Zerstörung unter den Befehlen des Königs." Kara nickte beklommen, da sie einen Kloß im Hals hatte. Niemals hätte sie gedacht, dass Valdemar Kinder auf dem Gewissen hatte. „Er benutzte mich dazu, Ellanon zu vergrößern. Ich dachte, ich täte das richtige. Jedoch erkannte ich viel zu spät, dass ich nur eine Marionette für ihn war. Ich floh aus dem Schloss, wanderte wochenlang ziellos umher, bis ich eines Tages am Ufer des Mandira-Stromes ankam. Ich wollte nicht mehr leben und dachte, es wäre das Beste, wenn ich aus dieser Welt in die nächste übergehen würde. Damals hielt ich mich für ein Monster. Ich wollte nicht, dass mich jemand wieder dazu benutzte, unschuldige Leute zu ermorden. Also war ich dazu bereit, mich in den Gewässern selbst zu ertränken. Aber dann fischte ich einen Weidenkorb aus dem Fluss. Das veränderte mein Leben, da ich mich nun um zwei kleine Halbelfen kümmern musste. Laendor und Senya haben mir geholfen, wieder den richtigen Weg zu finden und ein besserer Mensch zu werden. Sie haben mir das Leben gerettet." Valdemars Vergangenheit betrübte sie, aber sie war gleichzeitig froh darüber, etwas mehr über ihn erfahren zu haben. Dass er Kara so etwas anvertraute, bedeutete, er vertraute ihr wirklich. Und das ehrte sie auf eine unerklärliche Art. Über ihre Vergangenheit wusste Valdemar schlichtweg beinahe jedes Detail, viele Dinge, die nicht einmal Kara erahnen konnte. Dadurch, dass er ihr etwas über seine Vergangenheit erzählt hatte, verriet ihr nicht nur mehr über den Zauberer, Laendor und Senya, sondern auch über sich selbst. „In der Schule Arrowens hatten sie meinen Großvater als großen Eroberer gepriesen und in hohen Tönen gelobt, dass diese Zeit eine sehr erfolgreiche für Ellanon gewesen sei" sagte Kara verwundert darüber, von Valdemar eine andere Seite von Vargas gezeigt bekommen zu haben. „Keinesfalls aber für die Menschen selbst" erwiderte der Zauberer mit dunklem Unterton. „Sie waren es leid gewesen, immer wieder in großen Schlachten Familienmitglieder und Freunde zu verlieren. Den jüngeren Generationen wird bedauerlicherweise nicht verraten, dass Vargas andere Menschen manipuliert und für seine Zwecke ausgenutzt hatte. Euch wurde vorgegaukelt, er wäre ein großer und guter König. Erst sein Sohn, dein Vater Harrow, wurde dieser große König, über den alle sprechen. Als dein Vater den Thron, nach dem Tod deines Großvaters auf dem Schlachtfeld, bestiegen hatte, wendete sich das Leben für die Bewohner des Reiches zum Besseren. Unter der Führung deines Vaters mussten nur wenige Feldzüge Seite an Seite mit den Elfen geführt werden, und das auch nur, um sich gegen die Obsidianer zu verteidigen. Durch die heilenden Fähigkeiten der Elfen, starben in diesen Schlachten weniger Leute als in denen während Vargas' Herrschaft. Er hatte zwar mit den Elfen die Allianz gegründet, hatte sie aber nicht wirklich als Verbündete angesehen. Harrow hingegen hatte dies getan und damit das Reich und die Menschen gestärkt." Ein Lächeln legte sich auf Karas Gesicht. „Es ist schön zu wissen, dass Vater vor seinem Fall ein guter König war" sagte sie. Dieses Wissen beruhigte sie und schenkte ihr Trost. Kara seufzte und betrachtete erneut den Ring auf ihrem Finger. Nun fühlte sie sich stärker mit ihrer leiblichen Familie verbunden.
Erleichtert ausatmend sog sie den Geruch des Waldes in sich hinein. Kara und Senya befanden sich auf dem Heimweg vom Kräutersammeln. Ihre Gedanken drifteten ab, bis ihr wieder Valdemars Geschichte einfiel. Sie wollte Senya oder Laendor schon die ganze Zeit fragen, wieso sie ausgesetzt worden waren. Aber sie traute sich nicht. Schließlich wusste sie nicht, ob sie die beiden damit verletzen oder verärgern würde. Vielleicht wollten die beiden darüber auch gar nicht mit ihr reden? Senya schien Karas Gedanken lesen zu können. „Wenn du mich was fragen willst, dann tu es" forderte sie. Zögernd antwortete Kara: „Valdemar hat mir erzählt, dass er dich und Laendor in einem Weidenkorb gefunden hat. Wieso wurdet ihr ausgesetzt?" „Oh, das hat er dir also erzählt." Senya schüttelte lächelnd den Kopf. „Naja, ich hätte damit rechnen müssen, dass ihm das irgendwann mal rausrutscht." „Ich wollte dich nicht damit verletzen!" antwortete Kara hastig. ,, Tut mir leid, ich hätte wissen müssen, dass du darüber nicht reden willst." „Rede keinen Quatsch! Ich beantworte dir gerne deine Fragen" lachte sie. „Meine Mutter heißt Lyria, sie ist eine Elfe. Sie war eine Elfenkriegerin und lernte meinen Vater in Ellindor kennen. Sie und einige andere Elfen eskortierten den Elfenkönig zu wichtigen Verhandlungen wegen des Bündnisses der beiden Reiche. Mein Vater war ein Soldat, allerdings weiß ich nicht wie er hieß, wahrscheinlich ist der auch schon längst tot. Jedenfalls verliebten er und meine Mutter sich ineinander. Sie bemerkte nachdem sie zurück in Elysium war, dass sie schwanger war – mit Laendor und mir. Sie und alle anderen Elfen dachten aber, dass ihr damaliger Elfen-Ehemann der Vater sein würde. Aber nach unserer Geburt erkannten alle, dass wir zur Hälfte Menschen waren. Weil unsere Mutter das Gesetz gebrochen hatte, verbannte man sie und wir sollten getötet werden. Bevor dies geschah, setzte sie uns in einen Weidenkorb aus und der Fluss brachte uns fort. Das Wasser sollte entscheiden, was aus uns werden sollte... Valdemar hat uns dann gefunden und aufgezogen. Als Laendor und ich ungefähr in deinem Alter waren – vielleicht auch etwas älter oder jünger – ging Valdemar mit uns nach Elysium, in die Hauptstadt Mythreyn. Er hatte wichtiges mit den Elfen zu besprechen und wollte, dass wir von ihnen trainiert werden. Wir beide erlernten die Kampfkunst, ich auch noch das Heilen, weil ich zu dieser Zeit als einzige von uns beiden dazu im Stande war, Magie zu wirken. Diese Zeit war die schwerste meines gesamten Lebens. Die anderen Elfen stießen uns aus, behandelten uns wie Dreck und lästerten über uns. Als wir endlich unsere Ausbildung beendet hatten, war ich so froh wie noch nie, endlich wieder nach Hause zu gehen." Ihr Tonfall klang abwertend und man merkte, wie sehr Senya die Erinnerungen an jene Tage hasste. „Das hört sich schrecklich an" sagte Kara und legte ihrer Freundin mitfühlend eine Hand auf die Schulter. „Tja, aber das ist schon lange her. Mich interessiert's nicht, was die Elfen über uns erzählt haben. Sie kannten uns nicht. Sie wussten nur, dass Mutter das Gesetz gebrochen hatte, und deswegen stießen sie uns aus. Sie beurteilten uns danach, wer unsere Eltern sind, und nicht danach, wer wir sind."
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Kara - Das Herz der Elfen
FantasíaDer Ewige Krieg tobt auf dem Kontinent Insha. Schon seit Anbeginn der Zeit kämpfen Menschen, Elfen und Obsidianer gegeneinander. Mitten in diesem Krieg wächst Kara in einem kleinen Jägerdorf tief in den Wäldern auf. Eines Tages wird ihre Heimat plöt...