Die Ernte

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Sage Rosesleeve!

Hinter der Tribüne stieg dichter, schwarzer Rauch aus den gemauerten Schornsteinen auf. Meine Schicht für heute ist noch nicht zu ende. Wir werden pro Stunde bezahlt und wenn sich der Sack Zucker für Lavenders Geburtstag diese Woche noch ausgehen soll, muss ich mich rann halten. Sie wird 19. Das ist ihre letzte Ernte.
Sage Rosesleeve auf die Bühne!

Die Mädchen um mich herum werden unruhig. Die Friedenswächter auch. Die Menge teilt sich und Blicke schweifen suchend von Gesicht zu Gesicht. Um mich herum treten die anderen 17-Jährigen zurück und meine Margen verkrampft sich. Jede verlorene Minute bedeutete ein Pfund Zucker weniger.
Sage Rosesleeve? Zu mir Kleine!

Meine Ohren dröhnen. Plötzlich habe ich freie Sicht auf die Bühne. Stimmen flüstern, und Summen in meinen Ohren, jemand packt mich am Arm und reißt mich aus meinen Gedanken. Die Hand, die meinen Unterarm umklammert, ist so dunkel wie die weitaufgerissenen Augen die mich anstarren. Volle Lippen bewegen sich in einem runden Gesicht, das ich zwar kenne, aber nicht den Namen des Mädchens, zu dem es gehört. Auch ihre Stimme erkenne ich, obwohl ich kaum je ein Wort mit ihr gewechselt habe. Sie hat auf der Beerdigung ihres Bruders gesungen, der in den letzten Spielen während des Blutbads gestorben ist, und hat mit den rauchigen, dunklen Tönen Distrikt 8 bewegt und eine Stimme gegeben.
„Sage. Du musst. „
Mein Name klingt schön als sie ihn ausspricht. Trotzdem kommt mir der Frühstücksbrei hoch als sich die Erkenntnis in meinem Kopf breit macht.
Ich zittere. Ich kann mich nicht bewegen. Ich muss jetzt da raus. Ich muss jetzt nach vorne. Ich weiß, dass ich muss, ich weiß, dass ich nicht will, dass ich nicht KANN.

Meine Schritte sind unbeholfen und wacklig, wie die eines Rehkitze und als ich mich nach und nach von der Menge löse, packt mich ein Friedenswächter an der Schulter und schiebt mich resolut nach vorne. Ich versuche nicht zu stolpern.
Den Kopf gerade halten, Sage. Die Schultern zurück, die Brust raus. Du bist stolz auf die Bühne gerufen zu werden. Du bist stolz...ein...ein... nein. Kein Tribut. Das ist falsch. Es ist falsch, falsch, falsch, falsch, falsch! Ich muss zurück an meinen Webstuhl. Ich muss nachhause, Abendessen kochen und auf den Markt, um Lavenders Geschenk zu besorgen. Ich habe keine Zeit für sowas. Ich KANN es einfach nicht sein. Nicht ich. Nicht...
„Sage Rosesleeve. Zu mir meine Kleine."
Flame Headburn der, in die Jahre gekommenen Kapitolbewohner, der nun schon seit Jahrzehnten für die Erne in Distrikt 8 verantwortlich ist grinst mich breit an und streckt mir seine fleischige, beringte Hand entgegen. Sein Gesicht sieht so aus, als wäre jemand mit einem Bügeleisen darübergefahren und die klein Stupsnase, die er sich zur Feier des letzten Sieges seines Tributen gegönnt hat, wirkt mickrig und verloren im Gegensatz zu der Masse, die seine anderen Körperteile an den Tag legen. Seine Perücke ist doppelt so hoch wie sein Kopf und von einem feurigen Rot, das mit ein paar goldenen und burgunderfarbenen Strähnen durchwirkt ist. Lippen und Lidschatten sind in der knalligen Farbe von reifen Kirschen geschminkt und auch sein Anzug ist in warmen Farbtönen gehalten und besteht aus mehreren Leinen schichten, die kunstvoll übereinander drapiert sind.
Viel Stoff ist ein Zeichen des Wohlstands in meinem Distrikt. Stoffe sind zwar teuer, aber für viele Haushalte leicht zu beschaffen und eignen sich daher auch für die unteren Schichten ihren Status zur Schau zu stellen.
Mein eigenes Erntekleid ist üppig mit Rüschen verziert, die von einem starken Magenta im Brustbereich zu einem zarten Fliederton am Saum übergehen, der in knapp unter meinem Knie endet. Obenrum spannt das Kleid etwas. Seit der letzten Ernte ist hat sich mein Körper verändert und ist von dem eines Kindes, zu dem einer Frau geworden. Seit nun mittlerweile 3 Jahren bin ich keinen Zentimeter mehr gewachsen aber an Hüfte und Brust habe ich deutlich zu gelegt, was selbst meine älteren Brüder dazu gebracht hat, in mir kein kleines, naives Mädchen mehr zu sehen, sondern eine junge Frau zu erkennen, die auf dem Vormarsch ist.
„Nun komm schon Kleine, so eine hübsche junge Dame, hat doch keinen Grund sich so zu verstecken."
Ich ergreife die Hand des Losziehers. Sie ist warm und weich und umfasst die meine ganz. Ich stelle mich an seine Seite, den Blick starr in die Menge gerichtet. Mein Kopf hämmert. Ich kann keine Gesichter erkennen, nur eine bunte Masse. Ich blende aus, dass irgendwo unter den Gesichtern, die zu mir hochstarren das meiner Schwester sein muss.
Freiwillige. Bitte. Freiwillige. Es sind bestimmt andere besser geeignet, kräftigere Mädchen, klügere Mädchen. Irgendeine, die nach Ruhm trachtet. Nach Reichtum, einem besseren Leben...
Die Mitleid hat
„Ladys und Gentleman, der weibliche Tribut für Distrikt 8, Sage Rosesleeve!"

Irgendwo Jenseits der Stille, die in meinem Schädel dröhnt, verstehe ich die Worte, die von den Lautsprechern widerhallen.
Atmen, Sage. Du musst atmen.
Der männliche Tribut wird aufgerufen. Dieses Mal geht es schneller. Der Junge, der nach vorne stolpert, ist kaum älter als 14 und hat die Augen weit aufgerissen. Ich kenne ihn nicht.
Wir werden weggeführt. Weg von der bunten Menge, umkreist von dem Weiß der Friedenswächter. Ich habe Weiß noch nie gemocht.
Der Junge neben mir Schluchzt. Ich schaue ihm ins Gesicht. Er ist hübsch, hat kantige Züge und wache Augen, die wie Smaragde funkeln, aber er bleibt für mich ein namenloses Kind. Jetzt weint er. Ich versuche ihm zu zulächeln. Meine eigenen Augen sind feucht aber das Schluchzen bleibt mir in der Kehle stecken und schnürt mir die Luft ab.

„Sage!"
Lavender fällt mir um den Hals und schnäuzt sich beim Heulen in die Rüschen meines Kleides. Ich hallte sie ganz fest an mich gedrückt und streiche ihr über den Rücken, bleibe aber stumm. Ich weiß nicht was ich sagen soll.
Meine Brüder, Basil und Parsley stellen sich zu mir. Mit ihren starken Armen umfangen sie Lavender und mich ganz einfach, während Lilac ihr Gesicht in meinen Haaren vergräbt. Meine Geschwister umgeben mich wie eine Schützende Mauer und klammern sich an meinem Körper fest, weil sie wissen, dass das unser letztes Treffen sein wird. Ich bin die kleine, schmächtige Schwester. In ihren Augen habe ich keine Chance. Plötzlich fühle ich mich so, als würde ich keine Luft mehr kriegen und winde mich aus meiner Umarmung. Ich bereue es sofort als ich in ihre Gesichter schaue und. Das hier ist nicht nur mein Abschied, sondern auch ihrer. Hier geht es nicht nur um mich. Ich will nicht stark sein müssen, ich will toben und schreien, heulen und irgendjemandem ins Gesicht schlagen, aber ich schlucke meinen Willen hinunter und spüre, wie er stattdessen in meinem Bauch rumort.
Ich glaube das braun sich mächtige Blähungen zusammen. Sehr heldenhaft. Wirklich. Sage scheißt sich fast ins Höschen, noch bevor sie überhaupt ihren Distrikt verlassen hat.
Ich versuche etwas zu sagen, irgendwelche Worte zu finde.
„Es...es tut mir leid". Ich starre auf meine Füße.
Niemand antwortet. Meine Eltern könne ich noch in die Arme schließen, dann wird meine Familie von Friedenswächter aus dem Zimmer eskortiert. Ich zittere am ganzen Leib, als jetzt endlich die Tränen kommen.
Ich habe keinem von ihnen in die Augen geblickt. 

das Mädchen aus  Distrikt 8Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt