Hinter der Bühne

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„Hey, alles in Ordnung?", es hätte mir gut getan diese Worte zu hören, als ich einen Tag zuvor im Trainingscenter einen Nervenzusammenbruch hatte, aber heute brauchts sie der Berg von einem Jungen, dringender, der zitternd in der Ecke des Warteberichs steht. Sein Blick ist abwesend wie immer, seine Haltung aufrecht und seine Mine wie in Stein gemeißelt, aber seine Hände verraten ihn. Sie beben, kaum merklich zwar, aber ich achte auf jede noch so kleine Geste bei meinen Beobachtungen. Die anderen Karrieros stehen abseits, nach der Episode beim Schießstand hat es einen Streit in der Gruppe gegeben. Jeder hat es mitbekommen, aber keiner hat mehr als ein paar Wortfetzen von dem verstanden, was die anderem dem Jungen aus 2 an den Kopf geworfen haben. Er hat die Schimpftirade schweigend über sich ergehen lassen, um sie dann mit einigen knappen Sätzen zum Verstummen zu bringen. Ich denke nicht, dass sie die Allianz aufgelöst haben, gestern Nachmittag haben sie jedenfalls wieder zusammen trainiert, aber die wenigen Versuche der anderen, zu dem schweigsamen Jungen Kontakt auf zu bauen, haben gänzlich aufgehört.
Jetzt steht er alleine da, während die Tribute aus 1 etwas abseits mit dem Rücken zu ihm in ein Gespräch mit seiner Distriktpartnerin vertieft sind und ihm keine Beachtung schenken.
So weit ich das mitbekommen habe, lassen sich die Mädchen gerade über ihre Abendgarderobe aus und ziehen über ihre Designer her, die beschlossen haben aus ihnen Puppen, anstelle von Killermaschinen zu machen. Wenn man sich die bauschigen, pastellfarbenen Rüschenkleidern anschaut, die nichts von ihrer muskulöse Statur erahnen lassen, ist ihre Kritik auch nicht ganz unberechtigt. Mich hat Najade wieder in ein sehr enges und freizügiges Seidenkleid gesteckt, dass noch dazu einen Schlitz bis unter die Hüfte hat. Der hauchdünne Stoff ist in mehreren Lagen drapiert und schimmert matt in verschiedenen violett und Lilla tönen, die zum Saum hin dunkler werden und sich wie eine zweite Haut an die Kurven meines Körpers schmiegen. Meine Haare hat sie offengelassen, aber mit so viel Haarspray fixiert, dass nicht das kleinste Härchen absteht und meine Frisur massiv wie ein Mauer ist. Ein paar Veilchen sind hie und da in einzelne Strähnen ein geflochten, an meinen Handgelenken schimmern mehrere silbrig-glänzende Reifen als Schmuck und meine Lippen sind mit dunkel violettem Lippenstift in Szene gesetzt.
Der Designer, der für den Anzug den männlichen Tributen aus 2 verantwortlich ist, hat sich bei seinem Ensemble weit weniger ausgetobt. Der Junge trägt einen schwarzen Blazer und eine schlichte Leinen Hosen in der selben Farbe. Außergewöhnlich ist nur, dass unter dem Blazer weder Hemd, noch T-Shirt seinen Brustkörper verdecken. Auf der bloßen Haut glitzern goldene, feine Linien, die die Muskeln betonen und schattieren, so dass die Stärke dieses Tributen deutlich präsentiert wird und ihm Wiedererkennungswert verleihen.
Sein Gesicht ist wieder einmal mit Make up völlig zugekleistert und seine Lippen wirken, dank gekonnter Schattierung, schmaler und weniger wulstig.
Ich berühre ihm leicht am Arm. Er zuckt zusammen und reißt die Augen weit auf.
„Alles okay?"
„Ich..." er schluckt, „ ich kann das nicht".
Seine Unterlippe bebt und seine Stimme klingt zittrig und so leise, dass ich seine Worte über das Gemurmel im Hintergrund hinweg beinahe nicht verstehe. Dann begreife ich, was er mir gerade gesagt hat. Er war EHRLICH zu mir. Er hat mir gegenüber SCHWÄCHE gezeigt. Fast bin ich etwas enttäuscht von den Ausbildern in 2. Haben sie ihren Schützlingen nie beigebracht, anderen Tributen nicht zu vertrauen?
Ich lasse mir meine Verwunderung nicht weiter anmerken. Dumm für ihn, gut für mich. Trotzdem spüre ich ein Ziehen in meiner Magengegend, das ich nicht einordnen kann und mein Herz macht einen Hüpfer. So schnell? So schnell vertraut er mir?
„Hey, wir alle sitzen im selben Boot. Du kennst doch die Interviews von den Übertragungen, dieser Caesar Flickerman lässt dich schon nicht ins Messer laufen. Beantworte einfach seine Fragen und sei du selbst"
Ich lächle ihm ermutigen zu. Eigentlich lächele ich sowieso jedesmal, wenn ich ihn anschaue, aber dieses Mal lege ich noch extra Emotionen mit hinein.
Meine Worte scheinen ihn nicht wirklich zu beruhigen, darum beschließe ich einen Schritt weiter zu gehen. Ich ergreife seine Hand. Sie ist groß und rau und schwer, aber das Gesicht fühlt sich angenehm an.
„Hey, sieh mich an". Sein Blick wandert prüfend über meinen Körper und verharrt auf meinem Gesicht. Brauen Augen passen einfach nicht zu ihm. Sie sind zu, warm zu vertrauensvoll, zu...nett.
„Jeder Tribut hier weiß, wer der Gewinner der diesjährigen Hungerspiele sein wird, so gar die anderen Karrieros. Die Mentoren, Trainer und Sponsoren wissen es und heute Abend wird dafür gesorgt, dass es das Kapitol und ganz Panem erfährt."
Ein Zittern durchfährt seinen Körper.
Ich streiche mit dem Daumen sanft über seinen Handrücken.
Ich kann nicht glaube, dass er Lampenfieber hat. Er, der mit Abstand die meiste Sponsoren abbekommen wird und mit abstand der diesjährige Favorit ist. 
Er hat es doch nicht mal nötig große Reden zu halten. Die Menschen werden ihn sehen und wissen, dass er der geboren Sieger ist. Ein Gladiator. Ein Gewinner.
„Die beiden aus 1, zu mir!"
Eine Assistentin winkt die beiden Karrieros zu sich. Die Interviews werden jeden Augenblick beginnen
Sein Körper spannt sich an.
Tu es Sage, gewinn ihn für dich. Ich erkenne die Chance und wäge die Risiken gar nicht erst ab, bevor ich sie ergreife.
Er weicht etwas zurück. Das verunsichert mich, war aber zu erwarten.
Meine Hände umschlingen seinen Brustkorb, können seinen breiten Oberkörper aber nicht ganz umfassen. Mein bloßes Dekolleté berührt seine Haut, sie ist warm und weich und ich kann die Muskeln, die sich wie Gebirgszüge darunter hervorheben spüren. Mich durchläuft ein Schaudern. Ich werde rot, da bin ich mir ganz sicher, und mein Magen schlägt einen Purzelbaum.
Einen Augenblick lang befürchte ich, dass ich zu weit gegangen bin. Das er mich durchschaut hat und mich von sich stoßen wird.
Dann spüre ich, wie sich das Gewicht seiner Hände zögernd auf meinem Rücken neiderlässt und alles ist gut.
Einen wunderbaren, kostbaren Moment, geben wir uns beiden der Umarmung hin.
Der wundervollen, unschuldigen Geste, dem Gefühl von Sicherheit und der Gewissheit vom andern Gehalten zu werden. Ein Feuerwerk explodiert, ich höre, wie er den Duft meiner Haare einatmet und dann ist es vorbei. Ich löse mich von ihm, spüre noch einen kurzen Wiederstand, die Kraft seiner Arme, die mich nicht gehen lassen wollen, und trete von ihm zurück. Meine Augen finden die seinen. Sie sind verträumt, aber nicht abwesend, wie sonst immer. Im Gegenteil, sie wirken verloren, aber nicht in einem Traum, sondern im hier und jetzt, in der Wirklichkeit.
„Bitte, hab vertrauen in dich". Diese Worte wispere ich ihm noch zu bevor er von der Assistentin auf die Bühne begleite wird, die hinter ihm aufgetaucht ist und ihn anfährt, dass er sich gefälligst beeilen soll.

das Mädchen aus  Distrikt 8Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt