Najade redet kein Wort mit mir, während sie mein Kleid anpasst. Sie hat mir nicht mal zum Sieg gratuliert.
Bis jetzt hat das jeder getan, dem ich im Kapitol über den Weg gelaufen bin, auch wenn bei allen Gratulationen ein eisiger Unterton dabei war. Nur nicht bei Canvas Weyl, Belts Mentor, der mir gleich nach meiner Ankunft anerkennend auf die Schulter geklopft hat und mir Glückwunsche zu meinem Opfer gewünscht hat. Zuerst habe ich nicht verstanden, was er gemeint hat, aber noch am selben Abend, als ich in einer luxuriösen Badewanne damit beschäftigt war den Schmutz der letzten Tage von mir ab zu waschen, ist mir klar geworden, was ich in der Arena getan habe.
Ganz Panem hat mir bei meinem Spiel zugesehen. Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind hat mitverfolgt, wie ich dem Jungen aus 2 zugehört, Trost gespendet und den Schlafsack gewärmt habe. Jeder Einwohner und jede Einwohnerin in Panem hat unsere Liebesgeschichte verfolgt und mitbekommen, wie sie zu Ende gegangen ist. Sie alle wissen, was ich getan habe.
Ich bin nicht die einzige, die in sein Gesicht geschaut hat, als er gestorben ist, sie alle haben ihm dabei in die Augen geblickt. Sie alle waren da. Zu jeder Zeit. An jedem Ort. Ich habe nicht nur das Herz des Jungen erobert, sondern sämtliche Herzen im Kapitol. Die tragische Romanze. Der Große Sieger mit dem weichen Kern und das zum Tode verurteilte Mädchen, dass hinter seine harte Schale Blickt. Es war die Perfekte Geschichte und ich habe ihnen allen das Ende ruiniert. Und sie hassen mich dafür.
Najade ist fertig damit die Nadeln fest zu stecken. Sie verlässt den Raum, ebenso wortlos wie sie ihn betreten hat und lässt mich mit der Avox allein, die mir dabei hilft, das Kleid wieder aus zu ziehen. Wenigstens hat dieses Mädchen einen Grund dafür mich an zu schweigen.
Das Kleid ist schwarz und gewährt weniger tiefe Einblicke als die restlichen Kostüme, die Najade für mich entworfen hat. Während es sich noch vor ein paar Tagen sicher hervorragend an meine Kurven angeschmiegt hätte, ist es heute wie ein nasse Sack an mir runter gehangen. In der Arena hab ich viel Gewicht verloren, aber durch die Heißhungerattacken, die mich neuerdings spät Nachts überkommen, werden die paar Kilo wohl bald wieder drauf sein. Vor den Spielen hatte ich das Gefühl, dass ein Loch in meinem Margen klafft, heute kann ich nicht sagen ob noch viel von mir übrig ist, das nicht in der Leere verloren gegangen. Morgen soll ich interviewed werden und der Welt mein wahres Gesicht zeigen, aber ich kann es unter all den Masken nicht mehr finden. Mal lache ich wie eine Verrückte, dann heul ich mir wieder die Augen aus, und dann sind da die Momente, in denen ich auf die Wand einschlage, bis meine Knöchel blutig sind, aber die Gefühle, die ich auf diese Art auslebe, sind nur zarte Kreusel, auf der Oberfläche eines tiefen, schwarzen Ozeans. Ich würde gerne sagen können, dass ich mich davor fürchte, auf den Grund zu tauchen, aber die Wahrheit ist, dass ich mich am liebsten einfach in die Tiefe sinken lassen würde.Ich bin wieder zuhause.
Die letzten paar Tage, sind wie ein Film an mir vorbe gezogen. Das Interview, die Tage auf der Krankenstation und im Kapitol.... es war, als währe ich durch eine Glasscheibe von der Realität getrennt und die Worte, die meinen Mund verlassen haben, eine Tonspur, die ich gedankenlos abspiele. Caesar Flickerman hat das Interview, so kurz gehalten wie möglich, anscheinend hat meine Unbeliebtheit bei den Kapitol Bewohnern zu miserablen Preisen für die Sitze im Live- Studio geführt, was wiederum mehr als deutlich gemacht hat, dass das Interesse an mir, bei den meisten zu Missgunst geworden ist, und mich niemand mehr im Fernsehen sehen will. Vielleicht hätte der Gedanke daran, dass die gesamte Hauptstadt genug von mir hat, beleidigen oder verletzen können, aber das Mädchen, dem ich durch die Glasscheibe zuschaue, verzeiht keine Miene. 2 Tage lang war mein Aufenthalt im Kapitol, dann bin ich zusammen mit meinen Mentoren in Zug gestiegen und habe dem quietschbunten Luxus lebe wohl gesagt. Die Fahrt hat nicht lange gedauert. Oder vielleicht doch. Ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls haben mich meine Geschwister am Bahnhof abgeholt. Sie haben mich an sich gedrückt und geweint und ich habe versucht zu lächeln, als währe ich einfach von einer langen Reise zurück nachhause gekommen. Ein Friedenswächter hat dort auch auf mich gewartet um mich zum „Dorf der Sieger" zu eskortieren. In einem neuwertigen Jeep, wurde ich durch Distrikt 8 kutschiert, vorbei an meiner Schule und meinem alten Viertel. Die Straßen und die Menschen, die ich durchs Autofenster beobachtet habe, waren immer noch die gleichen und selbst der Himmel war eben so grau, wie am Tag der Ernte und doch fühlte sich genau das komisch an. Ich war keinen Monat weg. Nicht mal 3 Wochen. Und doch hatte ich erwartet, dass plötzlich alles anders sein würde, stattdessen, ging das Leben weiter, wie zuvor. Als hätte ich nur schlecht geträumt oder mir das alles nur ausgedacht.
Das neue Haus ist hübsch. Es hat hohe Fenster, einen ausladenden Garten und ist innen geräumiger, als es von außen den Anschein hat. Ich habe sogar mein eigenes Zimmer.
Meine Mutter hat neulich angemerkt, dass die Luft hier außerdem viel besser ist, „das Dorf der Sieger" ist die Gegend, die am weitesten von den immer spukenden Fabrikschloten und dem Gestank des Gerberviertels entfernt ist. Das wäre mir gar nicht aufgefallen. Ich gehe nicht oft raus, dabei hätte ich jetzt Zeit dafür. Seit ich aufgehört habe in der Fabrik zu arbeiten, scheint der Tag plötzlich doppelt so viele Stunden zu haben. Anfangs, wollte ich mir mit Lesen die Zeit vertreiben, aber ich halte es nicht aus alleine in meinem Zimmer zu sitzen und im Wohnzimmer, wo ständig jemand redet, putzt, kocht oder Lärm macht, kann ich mich nicht konzentrieren, deswegen sitze ich oft einfach so in dem großen Sessel im Eck, mit einem Buch auf dem Schoss, und lausche dem Familien leben um mich herum. Ich kann nicht allein sein. Ich habe angst vor den Augen, die mich anstarren wenn ich alleine in meinem Zimmer sitze. Von der Zimmerdecken, von den Wänden, vor dem Fenster unter dem Bett, in meinem Schrank...aus den Augenwinkel sehen ich, sie mich verfolge und ich kann spüren, wie sich ihr Blick in meinen Rücken bohrt, wenn ich mich abwende.
Meine Familie redet nicht darüber was passiert ist. Weder meine Eltern, noch meine Geschwister haben bis jetzt auch nur ein Wort darüber verloren aber ihre Gesichter sind voller Mitleid und manchmal, spät abends, wenn ich alleine in meinem Bett liege, kann ich meine Mutter im Nebenzimmer leise in ihr Kissen weinen hören. Ich schlafe nicht viel.
Seit ich wieder da bin habe ich viel Zeit im Schoss meiner Mutter verbracht. Ich sitze oft mit ihr zusammen auf dem Sofa und lasse mir von ihr vorlesen oder mir den Kopf kraulen. Ich lausche ihrem Herzschlag und spüre ihre Wärme. In letzter Zeit ist mir immer so kalt.
Plötzlich bin ich wieder das Kleinekind der Familie. Vor allem meine Geschwister behandeln mich wie ein rohes Ei und ich merke deutlich, dass jedes Wort, das sie an mich richten bestens durchdacht ist. Sie nehmen mir jegliche Last und alle Entscheidungen ab. Sie sagen mir wann ich essen, wann ich schlafen und wann ich sprechen soll. Es macht sie traurig wenn ich schweige, das weiß ich, aber es fühlt sich so an, als hätte ich alle Worte, die ich jemals sprechen könnte bereits aufgebraucht.
Lavender nimmt mich jeden Tag auf einen Spaziergang mit. Sie ist ganz besessen von der Vorstellung, ich könnte zu wenig Sonne oder Frischluft abbekommen, was in meinem Distrikt, mit dem ewig grauen Himmel und den vielen Fabriken, so sicher ist, dass es vollkommen irrsinnig ist, sich darüber Sorgen zu machen. Meistens gehen wir nur Runden im „Dorf der Sieger". Vorbei an Statuen mit Gesichtern, dies so grob in den Stein gehauen sind, dass sie mehr wie natürlich Formationen wirken als Handwerkskunst, und Blumenbeten, die mit Efeu überwuchert sind und keiner Blume auch nur den Hauch einer Chance geben, in der Kiesigen Erde ihre Wurzeln zu schlagen. Manchmal, gehen wir aber auch durch andere Viertel. Einmal sind wir sogar an meiner alten Fabrik vorbei gekommen, als gerade die verwitterten Eisentore aufgegangen sind und eine Schar junger Mädchen aus dem Gebäude geströmt ist. Die Gesichter der Mädchen waren schmutzig und mit einer Rußschicht überzogen, die nur die Kosmetischen Hautraspeln des Kapitols wieder abbekommen können. Mein Gesicht beginnt zu jucken, als ich an die lange, schmerzvolle Sitzung denke die es gebraucht hat, um den Dreck abzubekommen, der sich in eben dieser Fabrik in wie eine zweite Haut über mein Gesicht und meine Arme gelegt hat. Die Mädchen sind in Lumpen gekleidet. Die Kleider und Röcke sind mit Flicken übersäht und in ihren Haaren haben sie sich Bänder und Schleifen aus Stoffresten geflochten. Sie setzen sich auf einer Mauer zusammen, die das Betriebgelände in verschieden Sektionen unterteilt und hohlen braune Papiertüten hervor, in denen sich ihr Mittagessen befindet. Ich hatte immer Haferbrei in einer Dose dabei, der genauso papig geschmeckt hat, wie dies Tüte, in der ich mein Essen zur Arbeit gebracht habe. Ich erinnere mich daran wie es war auf die Uhr zu starren und auf die Mittagspause zu warten. Ich habe jede Sekunde gezählt und sobald ich draußen auf dem Hof war, war jede Minute kostbar. Lavender zog mich weiter, als hätten wir keine Zeit, den Mädchen beim Essen zu zusehen, dabei habe ich jetzt so viel davon.
Wann immer ich in das Zentrum der Stadt oder in die Fabrikenviertel gehen sehe ich mein Vergangenes Ich. Ich sehe das kleine Mädchen, dass in den abgetragenen Sachen ihrer Geschwister zu Markt eilt, oder in die Schule. Sie verschmilzt mit der Menge, ist eine von vielen jungen Fabrikarbeiterinnen in Distrikt 8. Nicht so, wie die Junge Frau in dem neuen Kleid, mit dem sauberen Gesicht und den weichen Händen, die nur noch zum Spazieren gehen das Haus verlässt. Ich sehe die Menschen um mich herum und fühle mich schlecht. Nicht für sie sondern, wegen all dem Selbstmittleid in dem ich mich suhle. Diese Menschen sind arm. Ihre Rückenschmerzen von der langen Arbeit und ihre Lungen sind gefüllt mit den giftigen Gasen, und Chemikalien, die sie langsam umbringen und ihnen doch ihre Arbeit, und somit ihr Überleben sichern. Sie alle haben keine Zukunft. Sie alle leben zusammengepfercht unter einem endlos grauen Himmel, immer gestresst, immer müde und immer besorgt.
Ich habe so viel Zeit das ich nicht weiß wo hin damit, ich habe keine Grund morgens auf zu stehen und ich muss mir bis an mein Lebensende keine Sorgen um meine Einkünfte machen. Ich habe es sogar geschafft den giftigen Dämpfen und dem Schwarzen Rußwolken zu entkommen, die von meinem Haus aus, wie kleine Wattebausche aussehen und fast schon etwas Romantisches an sich haben. Ich sehe diese Menschen und weiß, dass ich mich nicht beschweren kann.
Ich bin sicher.
Mir fehlt nichts.
Mir geht es gut.Und selbst Augen müssen blinzeln.
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das Mädchen aus Distrikt 8
FanfictionWillkommen, willkommen, zu den 56. Hungerspielen! Die 17-jährige Sage Rosesleeve aus Distrikt 8 verfolgt eine nie dagewesen Strategie um die diesjährigen Spiele zu gewinnen...eine Beziehung mit einem Karriero! Der starke, schüchterne Junge aus 2 sch...