• Epilog •

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[Ich schreibe das hier 3 Monate später, um wieder in meinen Schreibflow zu kommen und weil ich das hier schon seit Wochen unbedingt schreiben wollte. Anyways, viel Spaß beim Lesen! ^^]

𝟷𝟷. 𝙽𝚘𝚟𝚎𝚖𝚋𝚎𝚛 𝟸𝟶𝟸𝟶

「 ⓟ🅞🅘ⓝⓣ 🅞🅕 ⓥⓘ🅔🅦:
𝐓𝐬𝐮𝐤𝐢𝐬𝐡𝐢𝐦𝐚 𝐊𝐞𝐢 」

✁- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -

"Wieso kommst du nicht heute mal vorbei? Mama und Papa würden gerne zusammen essen. Mit dir und mir, so als Familie."
Seine Stimme klingt dumpf, zittert leicht. Unsicherheit? Angst? Was ist es, das er fühlt, wenn Akiteru mit mir spricht? Ist es Unsicherheit, weil er nicht mit mir umzugehen weiß, oder Angst vor mir und meiner Reaktion? Womöglich beides.
"Kei...?"
Ich hebe den Kopf, mit einem Blick zur Uhr. Fünfzehn Uhr sechsunddreißig, ein paar Sekunden noch, bis der Minutenzeiger ruckartig um eine Ziffer vorschnellt. Ich weiß, dass er mit mir spricht. Die Frage ist auch angekommen. Ich kann es nur nicht verarbeiten und darauf antworten. Ich weiß nicht, wie ich aufstehen soll, einen Ton von mir geben kann. Seit zwei Tagen sitze ich hier. Ich war noch auf der Toilette, aber den Rest der Zeit warte ich einfach, denke nach. Ich schaffe es, mein Kinn anzuheben. Eine Antwort muss ich doch auch geben können.
"Nein."
Dort hinzugehen, bedeutet für mich, mich umzuziehen, aufzustehen, das Haus zu verlassen, unter Menschen zu treten und meine Familie zu sehen, mit ihnen zu essen. Wenn ich dieses Haus nach vier Jahren wieder betrete, würde ich dann nicht wieder an ihn erinnert werden? An die Geburtstage, die Übernachtungsfeiern, die Verabredungen, alles, was wir in diesem Haus gemeinsam erlebt hatten.
Ich will das nicht.
"Komm schon. Es wird dir bestimmt nicht schlecht tun. Wir wissen ja auch, weshalb du dich dagegen sträubst. Aber wir sind deine Familie. Du bist nicht allein. Wir wollen dich nicht verlieren, ja? Es ist nur ein Essen. Du musst auch nicht darüber reden. Wir wollen dich nur sehen."
Ein Schweigen tritt ein. Ich habe nicht die Kraft, mich klar und deutlich auszudrücken. Vielleicht lege ich einfach auf. Ich weiß nicht mehr, warum ich eigentlich ans Telefon gegangen bin.
"Ich komme dich jetzt holen. Wenn du das Essen riechen könntest, würdest du sofort kommen, bestimmt. Mach dir keine Sorgen, ich regle das jetzt für dich."
Auf die Sekunde genau klingelt es an der Tür.
"Mach mir auf, ja?"
Dann legt er auf.
Er hat wohl schon die ganze Zeit vor der Tür gestanden. Er wusste wohl, wie das hier ablaufen würde. Selbst wenn ich nicht aufmache, ändert das nichts. Ich habe damals einen Ersatzschlüssel an meinen Bruder ausstellen lassen, er kommt rein, wenn er will.
Vielleicht ist es an der Zeit, mich aufzusetzen und das Bett zu verlassen. Ich glaube, ich weiß noch, wie das geht. Ein Bein vor das andere und dann auf dem Boden aufsetzen. Und dann hoch. Links, rechts, links, rechts. Moment, wo wollte ich nochmal hin? Wo ist die Tür?
Nach einer kurzen Pause fällt es mir wider ein und ich gehe weiter. Doch bevor ich die Tür überhaupt erreiche, öffnet sich die Tür vor mir und Akiteru schaut mir entgegen. Ich schaue zurück. Das letzte Mal habe ich ihn an meinem Geburtstag gesehen, so lang her ist das nicht. Aber mich gesehen, als ich mit Geist und Körper existierte, hat er zuletzt vor vier Jahren.
"Du bist ja doch noch aufgestanden."
Scheinbar, denke ich, kann es aber nicht aussprechen.
"Aber zieh dir doch erstmal was anderes an."
"Ich habe keine Wäsche.", quetsche ich raus. Reden ist anstrengend. Das letzte Mal habe ich etwas gesagt, als Akiteru an meinem Geburstag da war. Am 27. September, also vor mehreren Wochen. Neben dem "Nein" vorhin natürlich. 
"Wie, du hast keine Wäsche? Wie lange hast du das denn schon an?"
Das weiß ich nicht mehr, denke ich.
Er geht auf den Kleiderschrank zu und reißt die Türen auf. Ich will ihn daran hindern, aber es ist zu spät.
"Aber der Schrank ist doch voll? Und was ist das da?"
Er holt den Karton aus dem Schrank. Ab diesem Moment setzt eine Starre in mir ein. Diesen Karton hat er, dessen Namen ich nicht zu denken wage, mir vor fünf Jahren geschickt. Das Geschenk zu meinem Geburtstag, das Geld, das ich nie ausgegeben habe und der Brief, den ich nie gelesen habe. Dieses Paket ist der Grund, weshalb ich nicht mehr den Kleiderschrank öffnen wollte und so an keine Wäsche mehr kam. So trage ich immer die drei selben T-Shirts, die ich ab und zu wasche, wenn es mir zu ekelig wird. Aber das muss ich Akiteru nicht erklären. Als er das "HAPPY BIRTHDAY, TSUKKI" auf dem Deckel des Kartons sieht, stellt er es wortlos wieder in den Schrank, zieht das nächstbeste Kleidungsstück vom Haken und reicht es mir.
"Tut mir Leid."
Ich greife mir das Shirt, betrachte es nicht genau und ziehe es mir in meinem Zimmer an.
"Können wir dann?", fragt er, als ich aus der Tür trete. Ich antworte ihm nicht und verlasse wortlos das Gebäude, in dessen Wänden ich vier Jahre verweilt habe. Draußen bin ich einmal in der Woche, wenn ich mir etwas zu Essen besorge. Arbeiten muss ich ja nicht mehr, bei dem ganzen Geld, das er mir hinterlassen hat. Könnte ich aber auch nicht.
Ich atme die frische Luft aber trotzdem noch nicht ein, da wir erst mit dem Fahrstuhl in die Tiefgarage fahren und dann mit dem Auto durch die Stadt fahren. Es hat seit vier Jahren nicht mehr hier geschneit. Draußen ist es grau, die Gebäude und Straßen, die aufgrund der Fahrtgschwindigkeit und meiner Unfähigkeit, mich zu konzentrieren, verschwommen sind, sind lediglich graue, monotone Flecken. Ich kann kein Objekt als ein einzelnes wahrnehmen, sehe nur ein graues Gesamtbild. Vielleicht besser so. Das Erste, das ich scharfstellen kann, ist etwas hölzernes. Es verläuft über einen Bach. Ich drehe meinen Kopf nach links, um es weiter zu betrachten, als es vor meinem inneren Auge blitzt. Wir sind fast bei mir zuhause. Na ja, bei meinen Eltern eben. Daraus schließe ich, dass das hier die Brücke ist. Dann muss ich meinen Kopf zur rechten Seite drehen. Mein Herz hält es nicht aus, diese Brücke zu sehen.
Bitte, fahr schneller.
Ich erinnere mich an den Tag, an dem er mich fragte, ob man den vereisten Bach wohl betreten könnte, sehe aber kein Bild dazu.
Bitte.
Ich erinnere mich an den Sommertag, aber nur daran, was passiert ist. Ich sehe nur unsere Silhouetten.
Das Auto nimmt eine Kurve, wir fahren in unsere Straße ein.
Ich muss an den Tag denken, an dem ich ihn zurückwies. Die schlimmste Entscheidung, die ich je getroffen habe.
Schließlich erinnere ich mich an den ersten Januar. Als er, mit meiner Hand in seiner, den Bach betrat und ihn überquerte. Dann fällt mein Blick auf meine Handfläche, als müsste ich nachschauen, ob ich ihn halte, oder ob es nur die Erinnerung ist, die mir ein Gefühl von einer warmen, berührten Hand gibt. Aber natürlich ist es nur meine Handfläche, denn seine würde ich nicht mehr berühren können.
Dann, ein weiterer Blitz vor meinem inneren Auge und ich erinnere mich an den Kuss. Das Bild, das ich jetzt sehen kann, ist sein Gesicht, klar und deutlich. Seine erschrockenen, glasigen Augen, die in meine schauen, die Sommersprossen in seinem Gesicht, beziehungsweise die Sterne, die mir entgegen scheinen.
Bitte, komm zu mir zurück.
Ich hasse diese Brücke. Ich hasse sie so, so sehr.
"Weißt du, bisher ist diese Brücke immer nur der Ort, an dem es damals geendet hat. Aber ich möchte nicht nur jenen Sommertag oder jene Herbstnacht und eben genannten Tag damit verbinden. Ich möchte diesen Ort zu einem Ort machen, der eine viel schwerwiegendere Erinnerung erzeugt. Einen Ort, der uns immer zusammenhalten wird, selbst wenn... Du weißt schon."
Ich kann mich noch klar und deutlich erinnern, was ich damals zu ihm gesagt habe. Das Versprechen, diese Brücke zu dem Ort werden zu lassen, der uns immer zusammenhält. Ich wollte, dass es für uns ein Gefühl von "zuhause" erschafft.
Aber das tut es nicht. Es tut mir einfach nur im Herzen weh. Ich will nicht weinen, nicht vor meinem Bruder. Ich wünschte, ich wäre allein. Ich schlucke einmal, lasse mir nichts anmerken. Ich reibe mir einmal die Augen. Die Tränen kommen dabei zwar raus, aber so ist das, wenn man das Weinen in letzter Sekunde unterdrückt. Hoffentlich sind meine Augen gleich nicht rot oder geschwollen.
Das Auto hält an und ich atme einmal tief ein und aus, aber so, dass man es nicht hört, ganz langsam. Dann steige ich aus und folge Akiteru langsam in die Wohnung.
Sobald die warme Luft, die wie immer nach Kirsche riecht, mir entgegenkommt, brennen meine Augen und mein Gesicht. Es läuft mir kalt den Rücken hinunter. Es ist fast so, als würde ich einen Schatten sehen, eine Silhouette der Vergangenheit. Der Tag, an dem wir damals zu mir kamen, als er bei mir übernachtet hatte und seine Mutter wieder ins Krankenhaus kam. Wir hatten unsere nassen Klamotten hier aufgehängt. Es ist, als würde ich eine schwarze Gestalt neben mir sehen, die dieselben Bewegungen ausführt wie er damals. Als wäre er immer noch hier.
Ich wende mich ab, hänge meine Jacke auf und gehe ins Wohnzimmer, aus Angst, wieder an ihn erinnert zu werden.
Meine Sinne sind wieder überfordert, so schnell fällt mir meine Mutter um den Hals. Wir haben uns schließlich seit vier Jahren nicht mehr gesehen.
Sie fragt mich bestimmt einhundert Dinge, aber ich höre gar nicht richtig zu.
Auf dem Tisch steht das Essen, bereit, es zu verspeisen.
Meine Mutter schiebt mich sanft vorwörts, aber wir gehen nicht zum Tisch. Stattdessen schiebt sie mich ins Wohnzimmer.
"Mutter, lass das lieber!", höre ich hinter mir, aber es ist zu spät. Ich stehe mitten im Wohnzimmer, verfalle wieder in eine Starre, mein Blick fällt sofort auf das Klavier in der Ecke. An der Stelle, an der früher ein kleiner Bonsai in einem eckigen Topf auf dem Klavier stand, steht jetzt ein Foto von ihm. Daneben befinden sich Kerzen, Blumen und das alte Quartettspiel, mit dem wir immer gespielt haben. An der Wand darüber  hängt ein kleines Schild aus Mahagoni, in welches die Initialen "山口忠" (= Yamaguchi Tadashi) eingeritzt sind. Drumherum hat man Sterne geklebt, die sich mithilfe von Licht aufladen und dann im Dunkeln leuchten.
Noch immer liegt mein Blick starr auf dem Foto. Dieses Lächeln, das er auf dem Bild hat. Ich vermisse es so, so, so, sehr. Ich kann nicht in Worte fassen, wie tief jeder Stich geht, wenn ich mich daran erinnere. Wenn ich ihn sehe, an ihn denke, seinen Namen lese.
Mir steigen wieder Tränen in die Augen, aber dieses Mal kann ich sie nicht zurückhalten, denn ich habe ihn direkt vor Augen.
Im Augenwinkel nehme ich wahr, dass Akiteru jetzt in der Tür steht und mich bestürzt ansieht.
Ohne die Tränen wegzuwischen, drehe ich meinen Kopf zu ihm und zu meiner Mutter.
"Wieso?", frage ich, mit zitternder, aber klarer Stimme.
"W-wir dachen, wir stellen einen Schrein für ihn auf. Um ihn immer lebendig in Gedanken zu behalten."
Meine Stimme wird brüchig, aber ich muss laut werden. Ich habe zu viele Gefühle in mir, die ich mit wochenlangem Schweigen nicht auslassen konnte und das hier gibt mir wirklich den Rest.
"Ihn lebendig in Gedanken behalten? Er ist in meinen Armen gestorben! Er ist heute vor vier Jahren gestorben, an seinem Geburtstag! Ich war derjenige, der seine Leiche tragen musste, der sie ins Krankenhaus gefahren hat, nur um mir anhören zu müssen, dass ich ihn nicht wieder mitnehmen muss! Ich war derjenige, der allein darunter leiden musste, der die Beerdigung trotz allem organisiert hat, die Grabrede halten musste, der allein den Papierkram erledigen musste, der kurzzeitig bis zur Autopsie ständig befragt wurde, weil ich ihn ja umgebracht haben könnte, derjenige, der seine Wohnung ausräumen musste, derjenige, der-"
"Beruhige dich! Sie hat es doch nur gut gemeint!"
Auch mein Bruder wird laut und löst sanft meine Hände von der Schulter meiner Mutter, die vor Schreck weinend vor mir steht und mich mit angsterfülltem Blick ansieht.
Er schickt sie raus und schließt die Tür, ich stehe immer noch da und und kämpfe mit den Tränen. Es ist nicht nur Trauer, sondern auch Wut. Bei Frust kommen aus beiden Augen mehr Tränen, als man normalerweise weint. Nur bei Frust können Tränen so schnell produziert und ausgeweint werden.
Er stellt sich vor mich, ich lasse mich ein wenig sacken, meine Schultern fallen ein, meine Arme hängen locker an mir, meine Augen richten sich auf den Boden. Ich glaube, er umarmt mich, ich spüre, dass jemand seine Arme um mich legt und sein Kinn auf meiner Schulter ablegt. Erschreckenderweise wehre ich mich nicht dagegen, sondern habe wieder das Bedürfnis, etwas zu sagen.
"Ich ertrage das alles nicht. Ich kann kein Klavier mehr hören oder sehen. Ich kann mir keine Bilder von ihm ansehen, kein Eigentum von ihm ansehen oder anfassen. Ich kann sein Grab nicht besuchen, kann mein Versprechen, mich um das Grab seiner Eltern zu kümmern, nicht einhalten. Ich will es nicht mehr fühlen. Ich will keine Gefühle mehr haben. Ich will der sein, der ich zwanghaft vor fünf Jahren und länger versucht habe, zu sein. Ich will wieder alles mit einem Zwinkern vergessen und kalt und unnahbar wirken. Wieso kann ich das nicht? Wieso tut es so weh?"
Er zischt sanft, bedeutet es mir, zu schweigen.
"Weil auch du ein Mensch bist und Gefühle hast, wie jeder andere auch. Es ist okay, zu weinen. Wie willst du richtig trauern und darüber hinweg kommen, wenn du es dir gar nicht erlaubst? Ich weiß, wir hätten dir mehr helfen müssen, hätten eine größere Stütze sein müssen, hätten da sein sollen, und wenn du vorläufig wieder bei Mama und Papa gewohnt hättest. Hör zu, wie wäre es, wenn wir später zum Grab fahren? Glaub mir, es zu sehen, wird dir helfen. Du willst nicht dort hin, weil du Angst hast, nicht wahr? Angst, dich zu erinnern, Angst, zu weinen, Angst davor, nicht stark bleiben zu können. Aber gerade das musst du doch, sonst wird es immer weh tun. Und immer, und immer wieder. Ich fahre dich hin. Aber wir essen erst, in Ordnung?"
Ich nicke, bevor ich es mir anders überlege. Ich bin so wütend auf mich, dass ich es nicht kann, dass ich so emotional geworden bin. Ich fühle mich richtig schlecht deswegen.
"Dann komm."
Er öffnet die Tür wieder und ich verlasse den Raum, setze mich an den Tisch.
"Es tut mir Leid, Mutter.", murmele ich, sie schüttelt lächeld den Kopf.
"Schon gut. Ich bin gerade wirklich mit der Tür ins Haus gefallen. Ich hätte fragen sollen. Mir tut es Leid."
Ich nicke unauffällig und wir beginnen schließlich mit dem Essen.
Es ist mucksmäuschenstill, niemand sagt etwas. Im Hintergrund tickt eine Uhr, draußen rüttelt der Wind an den Fenstern.
Ich will die Stille brechen, es sollte ein familiäres Ereignis werden und ich habe es mit meinem kurzen Zusammenbruch eher zu einem Verhör gemacht, in dem ich tief in der Opferrolle stecke.
"Gibt es eigentlich auch Nachtisch?", frage ich, weil mir nichts besseres einfällt.
"Ja klar, mit Erdbeeren, nur für dich."
Ich nicke und esse weiter.
"Es war ganz schön schwer, daran zu kommen, die Saison ist ja schon länger vorbei, also tut es mir Leid, wenn sie nicht so frisch schmecken."
Oh, Erdbeeren? Das klingt gut. Die hatte ich lange nicht.
"Ich hatte lange keine Erdbeeren.", teile ich ihnen also mit und esse weiter. Da fällt mir auf, dass es ganz schön still ist. Vielleicht sollte ich die Stille brechen, meiner Mutter zuliebe.
"Gibt es eigentlich auch Nachtisch?"
"Häh?"
"Nur so."
Meine Mutter und mein Vater tauschen einen verwirrten Blick.
"Wie gesagt, ja, dafür habe ich ja die Erdbeeren besorgt..."
Oh, Erdbeeren, das klingt toll.
"Ich hatte lange keine Erdbeeren mehr."
Dann setze ich mich wieder ans Essen, das ganz schön schnell weniger geworden ist.
Danach werde ich bestimmt noch Hunger haben. Ich hatte schon lange kein gutes Essen mehr. Aber wie ich meine Mutter kenne, ist das noch nicht alles.
"Gibt es eigentlich auch Nachtisch?"
"Kei, alles gut bei dir?", fragt Akiteru, der neben mit sitzt und seine Stäbchen fallen lassen hat.
"Ja, wieso?"
"Du hast jetzt insgesamt drei Mal gefragt, ob es auch Nachtisch gibt. Das ist nicht lustig."
"Was? Das habe ich nicht. Aber wo wir schon dabei sind, gibt es denn Nachtisch?"
Mein Vater, meine Mutter und Akiteru schauen sich schockiert an. Niemand isst mehr außer mir.
"Ist das normal?", flüstert mein Bruder, meine Mutter schüttelt den Kopf.
"Ach, der Junge macht bestimmt nur Witze, nichts weiter. Kei, es gibt nach dem Essen noch Erdbeeren in Quark zum Nachtisch."
Oh, das ist schön. Aber weshalb sollte ich einen Witz gemacht haben? Ich bin nicht so der Typ dafür.
"Ich hatte schon lange keine Erdbeeren mehr."
Ich will die nächste Portion aufnehmen, aber mein Teller ist leer. Komisch, gerade war er doch noch voll?
"War sehr lecker, danke. Aber es gibt doch sicher noch Nachtisch, oder?"
Alle schauen mich entgeistert an. Als wäre es so untypisch für mich. Na ja, das ist es ja eigentlich auch, normalerweise esse ich nicht so viel.
"Mutter, da stimmt was nicht."
"Kei, wir fahren gleich erstmal in die Notaufnahme."
"Wieso das denn? Ich dachte, wir fahren zum Grab?"
"Das hast du dir gemerkt? Wieso weißt du das noch, aber nicht, dass du jetzt fünf Mal innerhalb von fünf Minuten nach Nachtisch gefragt hast?"
"Ich habe was?"
"Wir müssen uns das mal anschauen. Das kann nicht normal sein."
Das verstehe ich nicht... Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals nach Nachtisch gefragt zu haben. Ich weiß nur, dass mein Teller plötzlich viel leerer war, als jedes mal, wenn ich ihn beim auftun wieder angeschaut habe. Es ist wie zuhause. Ich vergesse oft, zu essen oder zu trinken, weiß manchmal nicht mehr, ob ich schon geschlafen habe, wenn ich mir wortwörtlich gerade den Schlaf aus den Augen reibe. Unzählige Male habe ich kalten Tee vorgefunden oder habe vergessen, warum die Mikrowelle an ist und da plötzlich Essen drin ist. Beim letzten Mal Einkaufen stand ich an der Kasse und merkte, dass ich sechs mal das gleiche Produkt eingepackt habe, weil ich immer vergessen habe, dass ich es schon habe. Manchmal finde ich Wunden an mir, von denen ich nicht weiß, wo sie herkommen. Ja, das ist nicht das erste Mal. Aber warum ist es nur zeitweise da und zum Beispiel nicht mehr jetzt?
Wortlos starre ich Akiteru an, mit der Hoffnung, dass doch alles nur ein Witz war.
"Okay, erst Grab, dann Arzt."
Ich nicke, bin in Gedanken aber weit weg.
"Kei, warte mal kurz im Wohnzimmer, ich komme sofort."
Ich nicke und trete den Weg dorthin an, den Nachtisch lasse ich mir einpacken. Dort angekommen lasse ich mich nieder und versuche, das Gespräch am Tisch zu belauschen.
"Mutter, wir können nicht nur in die Notaufnahme fahren. Wir müssen sofort in eine Klinik, MRT-Termine machen und das Ganze beobachten."
Klinik...?
Nein, da kriegen die mich nicht rein. Bevor das passiert, würde ich eher jemanden erschlagen.
Ein plötzliches Bild erscheint in meinem Kopf. Der nächtliche Himmel, Wasser, starker Wind.
"Kei? Wir fahren dann jetzt, kommst du?"
Ich nicke ihm zu. Ich muss mich jetzt auf andere Dinge vorbereiten. Ich werde jetzt das erste Mal zu seinem Grab gehen. Wie soll ich mich verhalten? Soll ich mit ihm reden, mich entschuldigen? Ich sollte mich um das Grab seiner Eltern kümmern.
Die Fahrt zum Friedhof dauert nicht lang und ich stehe irgendwann doch vor dem, wovor ich mich all die Jahre gefürchtet habe.
Doch das Grab ist nicht völlig verwachsen und ungepflegt, auch nicht das seiner Eltern, so wie ich es gedacht hatte.
"Ich habe mich um sie gekümmert. Ich habe es mir schon gedacht, dass du nicht herkommen würdest."
So war das also... Manchmal bin ich doch ein wenig froh darüber, ihn als Bruder zu haben.
"Hey, willst du nicht etwas sagen? Ich gehe auch eben, wenn du möchtest."
Ich kann darauf keine Antwort geben. Ich bin zu abgelenkt von dem Anblick dieses Grabes, von dem Fakt, dass der, dessen Name dort steht, hier unter der Erde liegt. Meine Knie zittern, schlottern fast, mein Herz rast, meine Hände schwitzen.
"Ich lass euch zwei mal allein."
Dann geht er. Ich weiß zwar nicht, wohin er geht, aber mein Vertrauen in ihn ist soweit wieder da, dass ich weiß, dass er nicht lauschen wird.

IVORY KEYS - [tsukkiyama]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt