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𝟷𝟶. 𝙽𝚘𝚟𝚎𝚖𝚋𝚎𝚛 𝟸𝟶𝟷𝟼

「 ⓟ🅞🅘ⓝⓣ 🅞🅕 ⓥⓘ🅔🅦:
𝐘𝐚𝐦𝐚𝐠𝐮𝐜𝐡𝐢 𝐓𝐚𝐝𝐚𝐬𝐡𝐢 」

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Was eine schöne Scheiße. Als ich das Video so hochgeladen habe wie es ist, habe ich nicht bedacht, dass ich vielleicht nicht mehr nach draußen gehen kann. Dabei ist mir das so wichtig. Ich kann nicht den ganzen Tag hier oben sitzen und zwischen den vier Wänden im Hotel hin und her starren. Ich wollte aus meiner Heimatstadt verschwinden, damit niemand weiß, dass ich dort lebe. Klar, Menschen die mich von früher kennen werden sicher meinen Namen verraten, jetzt damit prahlen, dass sie mich kannten, aber für solche Fälle besitze ich ja weder meine alte Telefonnummer, noch stehen meine alte oder neue Adresse irgendwo öffentlich. Im alten Haus ist zwar noch mein Vater, aber er öffnet niemandem die Tür mehr, wie er mir mitgeteilt hat, und das Telefon hat er abgeschafft. Also kann mich eigentlich niemals jemand finden. Um auch noch den Fakt zu verstecken, dass ich aus Sendai City komme, bin ich gestern in die Nähe von Osaka gefahren und habe mich in einem Hotel niedergelassen. Hier arbeiten zu meinem Glück ältere Menschen, die haben mich nicht erkannt. Gut, dass sich die Angestellten seit letztes Jahr nicht verändert haben. So kann ich in Ruhe hier sein und für einen kurzen Augenblick durchatmen.
Das Einzige, das ich bisher erreicht habe, ist mein Status und der Lebensstil, den er mit sich bringt. Aber wenn ich etwas dafür tun will, kann ich das nicht hier drin. Ich komponiere hier zwar Melodien, aber einen Text schreiben könnte ich hier niemals in einem Gebäude. Dafür muss ich raus. Und auch jetzt spüre ich wieder das Verlangen. Es gibt etwas, das ich schreiben muss. Aber ich weiß nicht einmal, ob ich das schaffen kann. Ob ich diese körperliche Stärke noch aufbringen kann. Und wenn man mich erkennt, wäre das das Schlimmste, das passieren könnte. Aber dieses Risiko muss ich eingehen. Also versuche ich, mir etwas helleres anzuziehen, damit selbst mein Kleidungsstil aus dem Video mich nicht verrät. Ich bedecke meine Haare mit einer Mütze und den Schal muss ich schweren Herzens auch zurücklassen. Dafür nehme ich die Kette mit der Muschel mit. Wenn ich jetzt auch noch nur zu Boden sehe und mein Gesicht verstecke, werde ich hoffentlich nicht auffallen. Außerdem befinde ich mich schließlich an einem gut besiedelten Ort, hier achtet niemand auf jeden zufälligen Passanten. Und es ist spät, also ist eh kaum jemand unterwegs. Also packe ich mein Notizbuch ein und bewege mich vorsichtig in Richting Tür. Sofort als ich nur die Klinke berühre, kriege ich schon leichte Panik. Erstens wegen bereits Genanntem und zweitens, was mache ich, wenn ich nicht wieder zurück komme? Wenn mein Körper das wirklich nicht mehr schafft, ich dann irgendwo im Schnee sitze und mir niemand helfen kann? Und selbst wenn, was, wenn diese Person mich erkennt und lieber erstmal nach einem Foto oder Autogramm fragt? Bei unserer Gesellschaft kann ich mir das gut vorstellen. Aber doch drücke ich runter und schleiche durch den dunklen, vage beleuchteten Flur, schaffe es irgendwie nach unten und anschließend nach draußen. Sofort hört man die Stadt ihr Lied singen. Der Sturm und Wind, unser Bass. Die verschieden Höhen und Tiefen der Töne, die die Autos von sich geben, als Melodie, ein leichtes Gewitter als Schlagzeug und der Regen als Rassel. Jetzt muss noch jemand darauf einsingen und dann hätte man ein Lied...
Ich verwerfe meine Gedanken und folge einfach blind nach Bauchgefühl irgendwelchen Wegen, suche nach einem Ort, an dem ich gut sitzen und abschalten kann, berücksichtige dabei aber auch, dass mit Laufen nicht so viel ist. Irgenwann, anhand des immer lauter werdenden Verkehrs und des immer mehr werdenden Windes, fällt mir auf, dass ich mich immer weiter in Richtung der Akashi-Kaikyo-Brücke bewege, über welche man die Awaji-Insel und Shikoku erreichen kann. Es ist eigentlich der perfekte Ort. Eine vier Kilometer lange Hängebrücke. Ich werde aber nicht weit gehen, so weit würde ich nicht kommen. Unter der Brücke befindet sich der Fußgänger-Zugang, von welchem man in die Tiefen des Meeren sehen kann. Hier sollte ein guter Ort sein, um schreiben zu können.
Aber ich schreibe nicht noch ein Lied.
Mein Plan ist es, einen letzten Brief an Tsukki zu schreiben. Ich werde all meine letzten Worte los und lasse ihm diese zukommen, damit wir beide dem Ganzen ein Ende setzen können. Sollte er auf mich zukommen, weil er es sich doch anders überlegt hat und meinen Aufenthaltsort herausgefunden hat, wird er den Brief natürlich nicht brauchen. Aber ich schaffe es ohnehin nicht mehr lange. Ich muss endlich das Gewicht fallen lassen, das ich tagtäglich tragen muss. Ich brauche jetzt dieses Ende. Und es ist egal, welches es ist, ob es das gute oder das schlechte wird. Aber so kann es nicht weitergehen. Ich bin jetzt zwanzig und ich habe mir geschworen, wenn ich zwanzig werde, muss es aufhören. Dann muss ich es endlich hinter mir lassen und akzeptieren. Jeder andere hat das auch schon einmal geschafft, da ist es wirklich peinlich, dass ich so schwach bin und nicht loslasse. Ich werde jetzt diesen Brief schreiben und das, was danach passiert, ist das Ende dieses Buches. Das letzte Kapitel. Dann gibt es vielleicht einen Epilog, aber noch weiß ich nicht, wie das Ende aussieht. Und bevor ich das erfahre, muss ich den Brief schreiben. Alle meine Gefühle müssen dort hinein, jedes Wort. Es gibt kein Limit. Wenn es meine letzten Worte an ihn sein sollen, dann muss auch alles darin stehen, damit ich es nicht bereue und immer noch nicht davon ablassen kann. Also werde ich jetzt auf die letzten Seiten meines Notizbuches schreiben und somit auch meine eigenen letzten Seiten festhalten. Dieses Buch hat mich durch all die Zeit begleitet. In ihm stehen tagebuchförmige Notizen, kleine Botschaften an Tsukki, ab und zu auch etwas an meine Mutter gerichtetes, Notizen zu neuen Liedern und Texten, das Buch beschreibt meinen Tiefpunkt genau. Wenn es voll ist, soll alles enden. Deshalb greife ich entschlossen den Stift und lasse diesen über die Papierseiten streifen, schreibe mit dieser einfachen Bewegungen so tiefgehende und bedeutende Worte nieder, lasse die letzten Gefühle in mir raus, die ich noch habe. Wenn ich losgelassen habe, werde ich nur noch eine leere Hülle sein, die langsam abstirbt. Aber es muss so sein, schließlich kommt bekanntlich immer alles so, wie es kommen soll. Als ich fertig bin, lese ich das Geschriebene noch einmal durch.

IVORY KEYS - [tsukkiyama]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt