❶⓿ ⊱ • 「🎹」 • ⊰

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𝟶𝟻. 𝙽𝚘𝚟𝚎𝚖𝚋𝚎𝚛 𝟸𝟶𝟷𝟼

「 ⓟ🅞🅘ⓝⓣ 🅞🅕 ⓥⓘ🅔🅦:
𝐘𝐚𝐦𝐚𝐠𝐮𝐜𝐡𝐢 𝐓𝐚𝐝𝐚𝐬𝐡𝐢 」

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Leise verlasse ich den Ort, an welchem ich untergekommen bin. Ich möchte niemanden hier wecken, wenn ich so spät noch das Gebäude verlasse. Sobald die Tür geschlossen ist, ziehe ich mir erst draußen Schuhe und Jacke an, zu guter letzt hänge ich noch den Schal um, den Tsukki mir vor vier Jahren geschenkt hat. Ja, vier Jahre ist es schon her. Der Tag, an dem wir an der Brücke standen und ich ihm meine Frage gestellt habe. Und zwei Jahre wiederrum ist es her, als... Na ja, vor zwei Jahren war der Tag, an dem ich drei für mich wichtige Menschen verloren habe. Tsukki, wen ich seitdem weder gesehen, noch von ihm gehört habe. Aber so ist es wohl, nach zwei Jahren muss ich es schließlich langsam mal realisieren und abschließen.
"Das ist mein letztes Wort. Lebewohl."
Er hat sich ausnahmslos daran gehalten. Er hat sich klar ausgedrückt. Er braucht mich nicht mehr. Es gab für ihn nie mehr als unsere Freundschaft, was ich gefühlt habe, war einseitig. Und weil ich mich wohl nicht mehr mit dem zufrieden geben wollte, was wir wirklich gemeinsam hatten, habe ich genau das verloren. Unzwar für immer. Ich beneide ihn dafür, dass er mich scheinbar mit einem Gedanken sofort für immer verbannen konnte. Wie macht er das? Wie schafft er es, etwas, das für ihn einen großen Wert hatte, mit einem Wimpernschlag zu vergessen? Was ist mit all den Erinnerungen, die er und ich teilen? Denkt er noch daran? Was denkt er, während er daran denkt? Ist er dankbar für die Zeit, an die er sich erinnert und ist dem gleichgültig eingestellt, wie es jetzt ist? Oder bedeutet ihm all die Zeit, die wir verbracht haben, nichts mehr? Betrachtet er sie vielleicht sogar als vergeudet? Bereut er oder ist er froh? Ich kann nicht aufhören, als darüber nachdenken, was er wohl gerade tut und wie er über all die Ereignisse jetzt denkt. Immerhin sind schon zwei Jahre seitdem vergangen und durch dieses Leben auf uns allein gestellt haben wir beide uns verändert. Ich möchte es einfach wissen, ob ich der Einzige bin, den das ganze so verdammt stark mitnimmt. Es gibt für mich nichts mehr als alles, das mich je verletzt hat. Für mehr ist da keinen Platz. Und natürlich all die Ängste. Was passiert, wenn wir uns zufällig über den Weg laufen? Es wird jede meiner Wunden wieder aufreißen, so viel ist klar. Wie sieht es mit ihm aus? Würde er anhalten? Das Gespräch suchen oder weiter gehen? Würde er mich überhaupt noch ansehen? Geht er vielleicht sogar auf mich los? Und was würde ich tun? Würde ich weitergehen oder stehen bleiben, es ignorieren oder anfangen, zu weinen? Ich würde mich entschuldigen, wenn ich den Mund aufkriege, so viel ist sicher.
Natürlich möchte ich mit dem Thema abschließen. Aber wie soll ich das tun, wenn ich verletzt bin, Schuldgefühle habe, weil ich es war, der unsere Freundschaft zerbrochen hat?
Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, das nicht vollkommen unmöglich ist, dann möchte ich, dass es für ihn in keinster Weise eine Last ist. Ich möchte, dass er gleichgültig, vielleicht sogar mit einem Lächeln, darauf zurück sehen kann. Aber wieso bezweifle ich das so stark? Ist es, weil er derjenige ist, der den Anker gelöst hat? Er hatte schließlich Gründe dafür. War es vielleicht sogar notwendig für ihn? Habe ich was falsch gemacht und ihm nicht mehr gut getan? Hätte er es sonst nicht geschafft, sich von allein von all dem hier zu trennen? War meine Abwesenheit das fehlende Teil, das er brauchte, um seinen Weg zu finden?
Ich bin einfach nur ratlos. Ich kann die Vergangenheit nicht ändern, eigentlich habe ich über keine Zeitlinie die Macht. Aber ich denke, also bin ich. Und wenn ich bin, dann kann ich auch etwas tun. Ich habe noch keinen Zugriff auf die Zukunft, aber das werde ich, da Gegenwart und Vergangenheit mich dort hinführen werden. Die Vergangenheit wird mich eindeutig nicht aus dem Loch holen, in dem ich mich sehe. Mir bleibt nur die Gegenwart und alles, das ich jetzt tun kann. Aber was ist das genau? Was kann ich denn tun? Es gäbe nur einen Weg und das wäre, alles wieder zu bekommen, das mir genommen wurde oder das ich mir selbst genommen habe.
Meine Mutter wiederzubekommen ist unmöglich. Sie ist das Teil, das in der Vergangenheit stecken geblieben ist, niemals wieder in die Gegenwart und somit auch nicht in die Zukunft gehen kann. Sie wird für immer fort bleiben. Dann ist da mein Vater, der unter den selben Umständen leidet wie ich. Einen Menschen zu verlieren, den man 30 Jahre lang kannte und liebte, ist das schmerzhafteste, das ihm passieren konnte. Und jetzt ist er allein. Genauso verloren wie ich. Aber er ist für mich unerreichbar geworden. Ich dringe nicht mehr zu ihm durch. Ich kann ihm nicht helfen, er kann mir nicht helfen. Wir haben uns verloren. Ich weiß nicht, ob es für immer ist. Ob einer von uns sich fängt und dem anderen ebenfalls hilft. Aber das bezweifle ich sehr stark. Zuletzt bleibt mir nur Tsukki. Er ist genau so unerreichbar wie alle anderen, aber doch ist er es. Ich habe damals von Akiteru seine Adresse erfahren. Er wusste natürlich von unserer Auseinandersetzung, wobei ich nicht weiß, wie viel er weiß. Jedenfalls hat er mir Keis Adresse gegeben, mit den Worten, dass er mir eine Möglichkeit geben möchte, um mit ihm irgendwie doch eine Lösung zu finden, weil er nicht mit dem Gedanken leben will, dass sein Bruder seinen besten Freund verloren hat und er nichts getan hat, um zu helfen. Ich habe es mich nie gewagt, Tsukki wirklich aufzusuchen. Ich habe ihm zu beiden seiner letzten Geburtstage etwas geschickt. Ich hätte es nicht über's Herz gebracht, ihm nichts zu schenken. Ich suche immer noch Wege, wie ich ihn irgendwie erreichen kann, ohne ihn wirklich aufsuchen zu müssen und ein weiteres Mal verletzt zu werden. Und heute habe ich eine Art Entschluss gefasst. In ein paar Tagen ist der neunte November. Der Tag, an dem meine Mutter von mir gegangen ist. Letztes Jahr habe ich zu diesem Tag ein Lied geschrieben, das nur über sie handelte und ich habe mit mir selbst abgemacht, dass es das letzte Lied über sie sein wied. Der geistigen Gesundheit meines Vaters und mir zuliebe. Aber zu diesem Tag ist auch etwas anderes passiert. Meine Idee ist, für diesen Tag ein Lied zu schreiben, in dem ich mich zu dem ganzen Thema mit Tsukki äußere. Ich möchte ein ganzes Lied, einen Text sowie die Instrumente an Tsukki richten. Dafür habe ich das Haus verlassen. Ich bin auf dem Weg zu einem ganz bestimmten Ort, um mich voll und ganz auf das Schreiben dieses Textes konzentrieren zu können. Mein jetziger Wohnort ist nicht allzu weit von der Brücke am Bach entfernt, sodass ich leicht zu Fuß dorthin komme. Mein Problem liegt wohl eher darin, dass ich ein wenig Angst habe. Es ist Samstag nachts, da laufen komische Gestalten hier rum. Ich bin zwar groß, aber das wird sie nicht davon abhalten, mir einen drüberzuziehen. Außerdem ist mein Körper nicht mehr im besten Zustand. Ich bin zu dünn und zu schwach geworden. Meine Füße sind irgendwie komisch. Geschwollen, mit dunklen Flecken darauf. Meine Beine kribbeln manchmal sehr lange, krampfen regelrecht. Ab und an habe ich noch kaum präzise Kontrolle über meinen Körper. Aber heute habe ich einen guten Tag erwischt. Ich habe lediglich Druckschmerzen und ab und zu knicke ich ein, aber ich kann gehen. Und ich werde es auch bis zu dieser Brücke schaffen. Das ist alles nur Anstellerei, rede ich mir ein. Das kommt sicher nur davon, dass ich mich kaum noch bewege und kaum etwas esse.
Und genau so, indem ich mir das dauerhaft einrede, schaffe ich es auch. Ich kämpfe mich hinkend dort hin, habe ab und zu das Gefühl, zu erfrieren. Aber zumindest hält der Schal meinen Hals warm. Als ich endlich ankomme, kann ich mich nicht mehr lange auf den Beinen halten und lasse mich sofort langsam auf den Boden herab. Hier ist es gut. Es ist zwar kalt im Schnee, aber nach ein paar Minuten ist man die Kälte gewöhnt und ich spüre meine Beine nicht mehr. Ich ignoriere zunächst, dass meine Beine kladdernass sein werden, wenn ich aufstehe. Bevor ich anfange, schaue ich durch die Holzbalken der Brücke auf den Bach. Er ist nicht zugefroren. Aber vielleich liegt es daran, dass das Eis schon gebrochen wurde. Auf der Wasseroberfläche spiegelt sich der Dreiviertelmond am Himmel. Ich bin froh, dass es nicht schneit, sonst hätte ich kein Licht zum Schreiben gehabt aufgrund der dichten Wolken, die zustande kämen.
Ich hole schließlich ein kleines Notizbuch und einen Stift aus meiner Tasche. Es ist an der Zeit, den Text zu schreiben. Ich habe mir natürlich schon ein paar Gedanken gemacht und die ganze Melodie steht schon. Ich muss später nur den Text einsingen. Und den muss ich noch schreiben.
Die Frage ist, was ist es, das ich will? Möchte ich einen Text, der genau erzählt, was passiert ist, sodass jeder es erfährt? Nein. Das ist privat. Was ich will, ist ein Text, der nur an ihn gerichtet ist. Einen Text, der alle irgendwie berührt und etwas in ihnen auslöst, aber letztenendes nur von Kei verstanden wird. Es soll ein Text sein, der indirekt unsere Geschichte erzählt, ihm persönlich Fragen stellt, ihm mitteilt, wie ich mit der Sache umgehe und wie sehr ich ihn mir zurück wünsche. Aber wie bereits gesagt spielt der Text dabei nicht die einzige Rolle, sondern auch die Melodie. Denn diese baut auf den Tönen auf, die Tsukki vor fünf Jahren gespielt hat und mich dazu aufgefordert hat, daraus etwas Besseres zu schaffen, um nochmal durch eine andere Art mit ihm zu kommunizieren. Und ganz zum Schluss ist noch eine Botschaft in der Melodie. Ich verschlüssle meine Adresse. Es ist ein einfaches Rätsel, das er zu hundert Prozent lösen wird, wenn er weiß, dass ein Rätsel darin ist. Aber durch private Vorraussetzungen ist natürlich er der Einzige, der das Rätsel lösen kann, weil nur er Zugriff auf die Informationen hat, die zur Lösung dessen führen. Unter diesen Vorraussetzungen soll der Song entstehen. Ich summe leise die Melodie am Anfang vor mich hin. Ich weiß in etwa, wie ich darauf singen will, also fehlen nurnoch die Worte. In der ersten Strophe sollte ich vielleich klar machen, um was für eine Art Lied es sich handelt und an wen es gerichtet ist. Es sind nur acht Verse in der ersten Strophe, also muss ich genau nachdenken, was ich sage. Ich beginne, in dem ich zufällig passende Sätze nehme, diese aufschreibe und einen weiteren passenden Satz suche, der sich darauf reimt und so finde ich schnell Reimschema und einige Reime, die ich so stehen lassen kann. Es dauert auch nicht allzu lang, bis ich vier Kreuzreime habe und ich somit die erste Strophe abschließen kann. Dann gibt es einen Pre Chorus, das heißt, einen weiteren Teil, der in den eigentlich Chorus einleitet. Aber bevor wir so weit und beim Chorus sind, brauche ich erst noch den Pre-Chorus. Für diesen Teil des Songs habe ich mir überlegt, vielleicht meine eigene Stärke in Frage zu stellen, mich meiner Schwäche zu bekennen und ihm so zu sagen, dass ich es nicht vergessen habe und es auch nie werde, um dann im Chorus auszudrücken, dass ich trotzdem damit lebe und ihm irgendwie zu erklären versuche, wie ich damit umgehe und dass es schwierig ist, weil ich so viel zu sagen habe, es aber nicht kann und ich deshalb die Musik gewählt habe. Das klappt auch ganz gut, im Pre Chorus erstelle ich mit Leichtigkeit zwei Quartette aus Reimen, jeweils ein Quartett reimt sich auf das selbe Wort. Dann kommt der Refrain. Im Gegensatz zu anderen ist meiner verhältnismäßig kurz. Es sind vier Verse, allerdings sind diese etwas länger und dadurch, dass es sowieso ein ruhiges, eher melancholisches Lied ist, wird sowieso schon alles sehr langsam gesungen und lang gezogen, sodass die Kürze des Refrains keinem auffällt. Darauf folgt die zweite Strophe. Ich möchte, dass diese signalisiert, dass die Last und der Druck ständig zunehmen, mich langsam zerstören und ich nicht weiß, wie lange ich noch durchhalte. Außerdem habe ich mir vorgenommen, Tsukki mitzuteilen, dass ich noch immer den Schal besitze, welchen er mir geschenkt hat. Vielleicht merkt er so, dass es mir wirklich immer ernst um ihn war. Ich weiß, dass ich mich verzweifelt und erbärmlich verhalte und mein Verhalten diesbezüglich auch nicht meines Alters entsprechend ist. Aber alles was ich versuche, ist mir noch irgendwie zu helfen, einen Weg zu finden, diesen Fehler wieder gut zu machen und zumindest meine Freundschaft zu ihm zu retten. Ich möchte wenigstens meinen besten Freund zurück. Deshalb soll dieses Lied eine Geschichte erzählen, unsere Geschichte, den Epilog. Der letzte noch fehlende Teil, bevor Pre-Chorus und Chorus noch einmal wiederholt werden, ist die Bridge. Diese hat zwölf Verse und soll ein wenig schneller gesungen werden als der Rest. Jetzt ist die Zeit, meine letzten Gefühle noch irgendwie in Worte zu fassen und den ganzen Rest loszuwerden. Einfach alles. Dass ich ihn nicht loslassen kann und mich noch immer fest an ihn, unsere Erinnerungen und meine Wünsche und Hoffnungen klammere, dass ich nicht weiß, wie ich ihn erreichen soll und ihn dazu bringen kann, mich zu verstehen und einfach wieder, wie früher, da zu sein. Hier bei mir. Ich will ihm zuletzt noch weis machen, dass ich die volle Schuld auf mich nehme, deshalb die Schmerzen akzeptiere. Und dann kommt schließlich noch der Hinweis auf das "Rätsel". Damit wäre der Grundaufbau abgeschlossen. Ich werde vielleicht noch einige Stellen ändern oder umformen müssen, aber das wird mir erst auffallen, wenn der Text nicht mehr auf die Melodie passt. Zufrieden stecke ich das Ganze wieder ein.
Ich hoffe, dass es etwas bringen wird. Dass ich ihn irgendwie zurück bekomme, egal, was es für mich bedeutet. Mehr brauche ich nicht, damit es mir besser geht. Ich brauche keine Ärzte, keine Krankenhäuser, keine Kliniken. Nein nein, die brauche ich nicht. Sie haben mir meine Mutter genommen, weil sie zu inkopetent waren, einen Tumor zu finden. Ich will nicht dorthin. Ich brauche nur Tsukki.
Und deshalb ist es mir so wichtig, ihn zu erreichen. Und deshalb steht auch mein Entschluss fest. Ich werde mich das erste Mal zeigen. Es ist mit kurzzeitig egal, wie die Reaktionen darauf sein werden, dass ich mich nach fünf Jahren zeige, darum geht es mir nicht. Ich habe mir so oft gewünscht, dass ich als das anerkannt werde, was ich bin. Nicht von irgendwem, sondern von ihm. Ich wolte immer, dass er mich sieht. Also zeige ich mich ihm. Wie ich schon gesagt habe, alles was ich will, ist meinen besten Freund und den Menschen, den ich liebe, wieder zurück zu bekommen. Und dafür nehme ich es in Kauf, mich zu zeigen. Ich verlasse meinen Aufenthaltsort sowieso nicht mehr, also kann ich mich schützen, indem ich mich dorthin zurückziehe. Schon komisch, was ein Mensch aus Verzweiflung und Liebe tut. Kein Wunder, dass all die Bösewichte in Filmen eine traurige Vorgeschichte haben. Niemand wird böse geboren, sie wurden zu den gemacht, was sie sind. Ich werde vielleicht nicht unbedingt zu einem bösen Menschen durch die Verluste, die ich gemacht habe, aber es hat gereicht, um mich in das Wrack zu verwandeln, welches ich letztendlich unfreiwillig und unverhofft geworden bin. Aber meine letzte Hoffnung habe ich noch. Noch ist es nicht zu spät. Aber ich muss mich beeilen.

IVORY KEYS - [tsukkiyama]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt