9. Maskeraden und Scharaden

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 Die goldene Münze wog schwer in ihrer Hand. Schwerer als sonst. Kalila zwang sich, sie zurück in die Tasche zu stecken und bog in den Flur ein. Ihre nächste Vorlesung über Meeresbiologie würde ohne Amir um einiges langweiliger werden, als ohnehin schon.

Auf dem Weg zum Hörsaal begegnete sie James, der genauso grimmig dreinblickte, wie sie sich fühlte.

»Irgendwas Neues?«, fragte er.

»Nicht wirklich.« Nachdem Khemu am Vorabend gegangen war, hatte sie die restliche Nacht wachgelegen. Was natürlich auch nicht geholfen hatte.

Sie zog den Zettel hervor, den sie in Amirs Jacke gefunden hatte und zeigte ihn James. Dessen Miene wurde noch düsterer, je mehr sie redete. »...Deswegen ist Samuel so schlecht auf Dämonen zu sprechen«, beendete sie ihre Erklärungen.

Er gab ihr den Zettel zurück. »So, wie ich das sehe, klammerst du dich an die Hoffnung, Samuel zu helfen, weil du Erica nicht retten konntest. Aber glaub mir: Der Typ ist es nicht wert, gerettet zu werden.«

»Nicht das Thema schon wieder«, stöhnte sie. Warum verhielten sich in letzter Zeit alle so kindisch? »Dasselbe haben wir über Erica und Khemu am Anfang auch gedacht. Und sieh dir an, wie sie sich verändert haben!« Delia ausgenommen; diese hatte seit dem Moment, in dem Kalila ihren Dämon aus dem Körper gerissen hatte, im Krankenhaus gelegen. Doch Kalila erinnerte sich noch zu gut an das Freundschaftsangebot, das Delia ihr gemacht hatte, kurz bevor... Erneut kroch ihr der beißende Gestank von Rauch und Asche in die Nase. Sie schauderte und verbannte das Bild Azraels, wie er zwischen leuchtenden Flammen stand, aus ihren Gedanken.

»Alles, was ich sagen will-« Kalila stockte, als ihr mit einem Mal eine Person am anderen Ende des Flurs zuwinkte. An dem übergroßen Trenchcoat erkannte sie, dass es das Mädchen vom Friedhof war.

Melissa kam zu ihnen herüber und begrüßte sie mit einem breiten Grinsen. »Man trifft sich wohl immer zwei Mal im Leben.« Sie vergrub die Hände in den Taschen. Die Seite, an der ihre dunklen Haare anrasiert waren, war zerfranst, ganz, als hätte sie selbst zum Rasierer gegriffen. »Ich wusste gar nicht, dass du auch hier studierst.«

»Äh, ja...Biologie.« Kalila hatte vollkommen verdrängt, dass ihre Retterin dieselbe Universität besuchte.

Sie stellte James und Melissa einander vor. »Sie hat mich vom Asphalt gekratzt, als ich zusammengeschlagen wurde.«

Augenblicklich wurde James Miene weicher. »Verstehe«, sagte er zu Melissa. »Danke, dass du ihr geholfen hast. Ist nicht selbstverständlich.«

Daraufhin sah Melissa zwischen ihnen hin und her. »Ist er...«, sie zeigte auf James. »Ist er dein Freund?«

Die unverblümte Frage brachte Kalila kurz aus dem Konzept. »Nein!« James war für sie der Bruder, den sie vielleicht gehabt hätte, wenn ihre Eltern sich nicht geschieden hätten.

»Dann ist dieser Biker dein Freund?«, fragte Melissa weiter. »Der, mit dem ich dich auf dem Parkplatz gesehen hab?«

Wie jeden morgen hatte Khemu sie hergebracht und danach getan, als kenne er sie nicht. »Nee, das ist auch nicht mein Freund.« Kalila musste kurz schmunzeln. »Wir hassen uns.«

Bevor Melissa zu einer weiteren Frage ansetzen konnte, kam James ihr zuvor. »Der Bikertyp ist Khemu«, sagte James. »Und er ist übrigens single.«

Kalila verschwendete gar nicht erst ihre Nerven darauf, über den Zweck dieser Aussage zu spekulieren.

»Gut zu wissen.« Melissa lächelte kokett.

Bevor das Gespräch noch unangenehmer wurde, wechselte Kalila rasch das Thema. »Was hast du eigentlich auf dem Friedhof gemacht?« Erneut musterte sie Melissa von oben bis unten. Ihre ungewöhnliche Erscheinung wirkte auch hier, weit entfernt von Toten und Gräbern, fehl am Platz.

Kalila Edward - RebellionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt