Auf dem Weg zur Bushaltestelle entschuldigte er sich wieder und wieder dafür, nicht schnell genug reagiert und keinen Blick auf den Dieb erhascht zu haben, bis sie ihm schließlich in die Schulter boxte.
»Keiner von uns konnte das kommen sehen.« Als sie sich vorgenommen hatte, den Friedhof zu besuchen, hätte sie nicht gedacht, ausgerechnet dort von einer lebendigen Person überfallen und ausgeraubt zu werden.
»Das Buch ist weg«, sagte sie atemlos, während sie wenig später im Bus nach Godwick Field saßen. »Ich hab meine Tasche gecheckt; es ist weg.«
Amir schnappte hörbar nach Luft. »Dann war der Überfall geplant.«
Dessen war sie sich nicht so sicher. Woher hätte jemand wissen sollen, dass ihre Enzyklopädie überhaupt existierte? Dennoch sollte sie die Möglichkeit nicht ausschließen.
Amir war immer noch kalkweiß im Gesicht und starrte aus dem Fenster. »Denkst du dasselbe wie ich?«
Kalila nickte. »Azrael«, sagte sie.
»Die Exorzisten!«, rief Amir gleichzeitig.
Irritiert sahen sie einander an.
»Dann denken wir wohl nicht dasselbe«, stellte sie fest.
Noch lange nachdem sie in Godwick Field angekommen waren, sah sie sich immer wieder auf der Straße um – doch niemand schien ein rotes Lederbuch unterm Arm zu haben. Fast glaubte sie, den Blick stechender Augen in ihrem Rücken zu spüren, doch dann riss sie sich zusammen. Wer auch immer sie angegriffen hatte, war mit Sicherheit über alle Berge.
Da Amir stillschweigend neben ihr herlief, versuchte sie, in ihn hineinzuhorchen. Sie fokussierte ihren Verstand auf das übernatürliche Band zwischen ihnen. Sofort spülte eine Welle aus Emotionen über sie herein: Verwirrung, Schock, aber vor allem Gewissensbisse.
Am liebsten hätte sie ihn an seiner Sportjacke gepackt und geschüttelt, bis er verstand, dass es nicht seine Schuld war, doch in diesem Moment hatten sie ihr Zuhause erreicht. Augenblicklich brach die Verbindung zwischen ihnen ab.
Als sie eintraten, herrschte im Haus absolute Stille; ihre Eltern waren noch nicht da. Sie verzogen sich in ihr Zimmer und sicherheitshalber verriegelte Kalila die Tür hinter sich. Sie wusste, dass sie paranoid sein musste, doch saß ihr der Schock des Überfalls noch immer in den Knochen.
Amir war deutlich anzusehen, dass der Vorfall ihn immer noch mitnahm. Das letzte Mal, dass er auf ihrem Bett gesessen und das Gesicht in den Händen vergraben hatte, war kurz vor ihrem Kampf mit Azrael gewesen. Ihn nun erneut so zu sehen, ließ sie schlucken.
»Du glaubst also, dass Azrael es war?«, fragte Amir und sah zu ihr auf.
Mit einem Seufzen ließ sie sich in den Sessel fallen und starrte an die Decke. »Ich weiß es nicht. Könnte ich mir schon vorstellen.«
»Ich bin mir sicher, dass er es nicht war«, sagte er überzeugt. »Azrael ist nicht der Typ, der andere von hinten bewusstlos schlägt. Außerdem hätte ich seine Anwesenheit dann gespürt.«
Sie musste sich eingestehen, dass er Recht hatte; Azrael hätte sie nicht ausgeraubt, sondern vielmehr die Gelegenheit genutzt, erst Amir und dann sie an Ort und Stelle zu zerfleischen.
»Er war es nicht«, wiederholte Amir, wie um sich selbst davon zu überzeugen. Nachdem sie sich Azrael und seinen Leuten gestellt hatten, hatte Amir die Angst vor seinem Erzfeind eigentlich überwunden, doch nun trat erneut das Glitzern der Angst in seine dunklen Augen. Kalila fragte sich, was ihn mehr beunruhigte: Die Möglichkeit, dass Azrael das Buch gestohlen hatte, oder die Exorzisten.
Die Liste ihrer Begegnungen mit den Dämonenjägern war bis jetzt glücklicherweise relativ kurz, daher war sie sich unsicher, ob ihr Angreifer wirklich ein Exorzist gewesen war.
»Vielleicht haben wir Glück und unsere Aufzeichnungen sind für den Dieb irgendwie unverständlich«, sagte Amir und sah sie an, als hoffe er darauf, dass sie ihm zustimmte.
Doch Kalila wusste noch ganz genau, wie unmissverständlich ihr Eintrag zu ihrem letzten Experiment gewesen war: Weihrauch lässt Dämonen ersticken! Als Amir noch Tage nach dem Versuch fürchterlich husten musste, hatte sie hinzugefügt: Experiment einstellen, oder nur im Freien fortführen.
»Wer weiß, ob der Dieb überhaupt von euch Dämonen weiß. Vielleicht hält er mein Geschreibsel ja für die Worte einer Geisteskranken«, sagte sie, in dem Versuch, ihn zu beruhigen, aber die Worte klangen in ihren eigenen Ohren hohl. Ihr Angreifer hatte ihr bewusst das Buch gestohlen und nicht ihr Geld. Sie mussten also davon ausgehen, dass es jemand war, der Bescheid wusste.
»Was für ein Schlamassel.« Amir stöhnte und fuhr sich durch die schwarzen Strubbelhaare. »Das ist alles meine Schuld.«
»So ein Quatsch«, sagte sie. »Hör endlich auf, dir selbst an allem die Schuld zu geben.« Als er bei den Worten zusammenzuckte, fügte sie hinzu: »So jemand wie du braucht sich doch nicht von einem menschlichen Taschendieb einschüchtern lassen! Du bist ein Dämon!«
»Ein ziemlich mieser, wenn du mich fragst«, meinte er trocken.
Kalila schüttelte den Kopf und griff nach ihrem Handy. Allein würde sie es offenbar nicht schaffen, Amir aufzumuntern, also brauchte sie Verstärkung.
»Ich trommel jetzt die anderen zusammen.« Vielleicht hatte Caroline ja eine aufmunternde lateinische Weisheit für Amir parat. Noch mehr hoffte sie jedoch, dass Alice eine Idee hatte, wie sie ihre Enzyklopädie aufspüren konnten.
Sie klemmte sich das Telefon ans Ohr und bestellte einen nach dem anderen ihre Freunde ein. Dann rief sie sogar Samuel und Khemu an – dem guten Willen wegen. Vielleicht taute das allgemeine Misstrauen auf, wenn sie damit begann, die beiden miteinzubeziehen.
Nachdem sie allen Bescheid gegeben hatte, wollte sie sich gerade zu Amir aufs Bett setzen, als es mit einem Mal an der Tür schellte. Erschrocken fuhr sie zusammen. So schnell konnte noch keiner ihrer Freunde aufkreuzen.
In ihrem Kopf ging sie bereits verschiedene Horrorszenarien durch – der Dieb war zurückgekommen, Azrael war wieder in der Stadt oder Julius Hartley war von den Toten auferstanden – dann riss sie sich zusammen. Ihre Fantasie rannte mal wieder mit ihr durch.
Sie ließ das dämonische Häuflein Elend in ihrem Zimmer zurück und lief die Treppe hinunter, ehe sie es sich anders überlegen konnte.
Kalila öffnete die Tür und fand sich zu ihrer Überraschung einem bekannten Gesicht gegenüber.
»Ich war gerade in der Gegend, als du angerufen hast«, keuchte Samuel. Er hielt sich schwer atmend die Seite, als hätte er einen langen Sprint hinter sich. »Bin sofort gekommen.«
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Kalila Edward - Rebellion
Paranormal~ Band 2 ~ Auf in die Hölle! Als wären die Ereignisse des vergangenen Jahres noch nicht genug gewesen, taucht eine namenlose Gestalt in Godwick Field auf. Die Absichten des mysteriösen Unbekannten werden schnell klar: die Dämonen ein für alle mal au...