15. Es lebe die Lüge, Amen

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 Wenig später saßen alle drei wieder in Carolines Auto. Nach ihrer überstürzten Flucht hatten sie so viel Abstand wie möglich zwischen sich und den Friedhof gebracht. Caroline hatte den Wagen am anderen Ende der Stadt in einem Feldweg geparkt.

Erst jetzt wagte Kalila aufzuatmen. »Wie hast du es geschafft, den Typen abzulenken?«, fragte sie. Erst als sie und Alice von der Bildfläche verschwunden waren, hatte der Pastor wieder die Kapelle betreten.

Caroline zupfte nachdenklich an dem Lederbezug des Lenkrads. »Ich hab ihm irgendetwas davon vorgeschwafelt, den Weg zu Jesus finden zu wollen. Verzweifelter Mensch, der Halt braucht... oder so.«

Die feuchte Spur auf ihren Wangen deutete darauf hin, dass sie auch die ein oder andere Träne für ihr Theaterstück vergossen hatte. Wieder einmal war Kalila beeindruckt davon, was für Überraschungen in der kleine Blondine steckten.

»Eigentlich wirkte er sogar ganz nett«, sagte Caroline. »Nicht wie jemand, der übernatürliche Wesen jagt.«

Unwillkürlich musste Kalila daran zurückdenken, wie das ehemalige Oberhaupt der Exorzisten, Julius Hartley, sie hinters Licht geführt hatte. »Das ist alles eine Farce, um sich dein Vertrauen zu erschleichen. Sich verstellen können die gut.«

»Mag sein, dass er kein Engel mit blütenreiner Weste ist. Aber er wirkte nicht, als wäre er ein Exorzist.« Caroline schüttelte den Kopf. »Wir haben in seinem Büro keine Anhaltspunkte dafür gefunden.«

»Weil er seine Spuren gut verwischt hat!«

Caroline seufzte. »Oder weil er einfach keiner ist.« Sie sah Kalila eindringlich an. »Meinst du nicht, dass wir vielleicht zu vorschnell geurteilt haben? Properare in judicando, est crimen quaerere. Wer vorschnell urteilt, sucht nach der Schuld.«

»Sagt wer?«, tönte Alice von der Rückbank.

»Publilius Syrus, römischer Autor. Und ich finde, er hat Recht.« An Kalila gewandt sagte sie: »Ich kann verstehen, dass du dir wünschst, Atwell wäre unser Mann. Aber wenn er es nicht ist, sollten wir nicht weiter unsere Zeit auf einen Unschuldigen verschwenden.«

Widerwillig musste Kalila sich eingestehen, dass sie vielleicht recht hatte. Die Zigaretten und verschimmelten Kekse aus Atwells Büro bewiesen gar nichts.

Ein lautes Schnauben kam von Alice. »James färbt wirklich auf dich ab. Ihr beide seid immer so...vernünftig.« Sie machte eine wegwerfende Geste.

Kalila zog den Zettel mit der Adresse der Kirche hervor. Auch wenn der Pastor sich als Sackgasse herausgestellt hatte, sollten sie sich trotzdem in der Kirche umsehen, bevor sie aufgaben. Nur, um sicherzugehen.

Sie überredete die anderen von ihrem Vorhaben.

»Aber keine Einbrüche mehr.« Caroline drehte den Schlüssel im Zündschloss um. »Mein Gewissen hat für heute genug meiner schlechten Taten mitangesehen.«

»Ich hatte Spaß«, meinte Alice.

Sie verließen ihr Versteck in dem kleinen Feldweg und fuhren los.


Die Kirche von Helhoughton war so riesig, dass Kalila den Kopf in den Nacken legen musste, um bis zur turmartigen Spitze des Dachs hinaufzuschauen. Sie lag in einem abgelegenen Teil der Stadt, der noch ländlicher und abgeschiedener war, als sie vermutet hatte. Die hohen Wände aus grauem Sandstein ließen sie düster wirken, wie ein Schatten in der Landschaft.

Als sie sich dem massigen Gebäude näherten, fiel ihr auf, dass die Kirche sogar noch größer war als die von Godwick Field, welche Azrael letztes Jahr bis auf die Grundmauern hatte niederbrennen lassen.

Vor dem großen Eingangstor herrschte reges Treiben; ununterbrochen gingen Leute ein und aus.

»Was, wenn hier gleich Gottesdienst ist?«, flüsterte Caroline.

»Umso besser«, meinte Alice. »Dann achtet keiner auf uns, während wir uns umsehen.«

Da war sich Kalila nicht so sicher.

Sie schlossen sich dem Strom der Menschen an und betraten die Kirche. Im Inneren empfing sie eisige Kälte; von der warmen Sommerluft war hier nichts zu spüren.

Unzählige Schritte hallten von den Wänden wieder, als sie sich so unauffällig wie möglich einen Platz auf den hinteren Bänken suchten. Von hier aus hatten sie sowohl den Altar als auch den Rest des Hauptschiffs im Blick.

Obwohl stetig weitere Menschenmassen hinzukamen, war die Kirche erst zu einem Viertel gefüllt. Bis es mit dem Gottesdienst – oder was auch immer hier stattfinden sollte – losging, würde es wohl noch dauern.

»Die sehen alle ganz normal aus«, wisperte Caroline, während sie die vielen Besucher musterte.

Kalila warf einen Blick zum Altar, wo bereits Geistliche in langen Roben hin und her wuselten. Scheinbar befanden sie sich gerade in ihren Vorbereitungen. Das war ihre Gelegenheit, um sich ein bisschen umzusehen.

Kalila winkte die beiden mit sich und führte sie weg von dem Mittelschiff und den Menschenmassen. In dem angrenzenden Säulengang waren sie vor neugierigen Blicken geschützt und konnten sich unbemerkt dem Altar nähern.

Eine Handvoll großgewachsener Leute in schwarzen und weißen Gewändern huschte um den Altar herum. Dabei schienen sie alle von einer ganz bestimmten Person Anweisungen zu bekommen; ein Mann mittleren Alters, dessen Halbglatze im Kerzenlicht glänzte, schien das Chaos mit Mühe zu koordinieren. Er musste der Pfarrer sein. Gerade drückte er jemandem ein Notenheft in die Hand und schickte ihn die Treppe hinauf zur Orgel, als mit einem Mal weitere Personen die Bildfläche betraten.

Eine Gruppe Jugendlicher – viele davon in ihrem Alter, manche jünger, manche älter – näherten sich dem Pfarrer. Sie schienen auch für die Vorbereitungen verantwortlich zu sein, denn der Pfarrer schickte gleich ein Dutzend von ihnen los, damit sie sich um den Chor kümmerten.

Die restlichen Jugendlichen waren schwer mit irgendwelchen Kisten und Säcken beladen. Kalila konnte von ihrem Versteck aus zwar nicht hören, was gesprochen wurde, aber der Pfarrer deutete auf eine Tür, die in einen Raum hinter dem Altar führte. Daraufhin machten die Jugendlichen sich daran, ihre Fracht dort abzuladen. Auf ihrem Weg kamen sie gefährlich nahe an ihrem Versteck vorbei, sodass Kalila hastig hinter eine Säule huschte. Während die Prozession an ihnen vorbeilief, musterte sie die Gesichter – und entdeckte plötzlich eins, das ihr bekannt war.

Melissas fransiger Haarschnitt stach unter den anderen Jugendlichen hervor, wie eine Hornisse im Bienennest. Gerade lachte sie über etwas, das ein Mädchen neben ihr gesagt hatte.

Kalila überlegte kurz, ob sie herübergehen und Hallo sagen sollte.

Melissa klopfte nun einem kleinwüchsigen Jungen auf die Schulter, der mit einer großen Box in der Hand gestolpert war. Kalila musterte sie für einen Moment. Sie schien sich gut mit den anderen zu verstehen.

Dann hielt Kalila mit einem Mal inne. Erst jetzt war ihr die Einkaufstüte aufgefallen, die über Melissas Schulter baumelte. Angestrengt kniff sie die Augen zusammen, um den Schriftzug darauf zu erkennen. Als Melissa stehen blieb, konnte sie die Worte entziffern.

Jewel & Mason.

Augenblicklich wurde ihr eiskalt.

Wie dumm sie doch gewesen war, sich zum zweiten Mal hinters Licht führen zu lassen.

Kalila Edward - RebellionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt