Als sie aus ihrer Ohnmacht aufwachte, sah sie verschwommen. Die ganze Welt um sie herum drehte sich in wilden Pirouetten.
Während sie noch orientierungslos auf der Erde lag, rüttelte jemand an ihr.
»Oh mein Gott, alles Ordnung?« Die Hände, die zu der Stimme gehörten, versuchten sie in die Senkrechte zu hieven. »Kannst du mich hören?«
Kalila antwortete mit einem Stöhnen.
Eine kühle Hand verpasste ihr einen Klaps auf die Wange. Allmählich klärte sich Kalilas Sicht auf; sie blinzelte noch ein paar Mal, dann erkannte sie das Gesicht, das zu der Stimme gehörte. Es war das eines Mädchens. Braune Haare umrahmten ein vor Schock leichenblasses Gesicht.
Vorsichtig setzte Kalila sich auf. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie noch immer ihre Münze umklammert hielt, und steckte sie rasch wieder ein.
»Was zur Hölle?«, murmelte sie benommen und fasste sich an den Hinterkopf. Dort, wo der Schlag sie getroffen hatte, waren ihre Haare feucht. Als sie ihre Finger zurückzog, klebte ein wenig Blut an ihnen.
»Ich hab dich schreien gehört und bin dir hinterhergelaufen«, sagte das Mädchen entsetzt. »Was ist passiert? Geht's dir gut?«
»Ich glaube schon.« Mit zittrigen Knien erhob Kalila sich.
Nun nahm sie ihren Gegenüber das erste Mal genauer in Augenschein. Die halblangen braunen Haare waren an einer Seite anrasiert. Sie war so schlaksig wie ein Reh gebaut und konnte kaum mehr als zwei Jahre älter sein. Das Mädchen warf ihr einen besorgten Blick zu, während sie die Hände in den Taschen ihres viel zu großen grauen Trenchcoats, der ihr bis zu den Waden reichte, vergraben hatte.
»Was ist passiert?«, fragte sie wieder.
»Ich hab keine Ahnung«, gab Kalila zurück. »Irgendwas hat mich von hinten... angegriffen.«
Das Mädchen hob Kalilas Tasche vom Boden auf und reichte sie ihr. »Dann solltest du vielleicht nachsehen, ob dein Geld noch da ist. Sieht mir ganz nach Raubüberfall aus.«
Kalila nahm die Tasche entgegen. Verdutzt stellte sie fest, das all ihre Habseligkeiten noch dort waren. Der Geldbeutel war nicht angerührt worden und das Handy lag auch immer noch dort. Doch dann erstarrte sie. Eine Sache fehlte. Sie kramte energischer in der Tasche herum, doch es nutzte nichts. Das in rotes Leder gebundene Notizbuch, das Caroline ihr geschenkt hatte, ihr übernatürliches Lexikon, ihre Dämonen-Enzyklopädie, war verschwunden. Für einen Moment setzte ihr Herz aus. Das durfte nicht wahr sein.
»Alles noch da?«, fragte das Mädchen.
Hastig raffte sie ihre Tasche zusammen. »Ja, nichts gestohlen«, log sie.
»Seltsam«, sagte das Mädchen. Dann hielt sie ihr mit einem Mal die Hand hin. »Ich bin übrigens Melissa.«
Noch immer reichlich aufgewühlt erwiderte sie den Handschlag. »Kalila Edward.« Vertragspartnerin eines Dämons, ehemalige Besitzerin wichtiger Informationen über paranormale Wesen und Vollidiot der Nation, fügte sie in Gedanken hinzu. Wie hatte ihr das Buch abhanden kommen können? Wer immer ihr von hinten eins über den Schädel gebraten hatte, musste es geklaut haben. Innerlich verfluchte sie sich. Wie hatte sie so achtlos sein können?
»Hast du deinen Angreifer gesehen?«, fragte Melissa und warf einen Blick über den Friedhof. Doch außer ihnen war niemand dort.
»Nein.«
»Dann sollten wir uns schnell vom Acker machen.« Melissa zog sie mit sich durch das Ausgangstor. Ihr schien der Friedhof ebenfalls wenig zu behagen.
Außer ihnen war noch immer niemand zu sehen, als sie den Friedhof hinter sich ließen und in die Landstraße einbogen, die mitten durch ein Waldstück führte.
»Das war ja ein ziemlich komischer Vorfall«, sagte Melissa. Noch immer hatte sie die Hände in den Taschen ihres Trenchcoats vergraben und schlenderte sorglos neben ihr her. »Bist du eigentlich auch von hier?«
Kalila schüttelte den Kopf. »Godwick Field«, murmelte sie und musste sich zusammenreißen, sich nicht wie wild in alle Richtungen umzusehen. Wer hatte sie auf dem Friedhof zusammengeschlagen und wohin war der Dieb so schnell verschwunden? Andererseits wusste sie jedoch nicht, wie lange sie bewusstlos auf der Erde gelegen hatte, ehe Melissa eingetroffen war.
»Hör mal, danke für deine Hilfe«, sagte sie. »Aber ich sollte wirklich nach Hause.« Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie musste so schnell wie möglich zurück und den anderen berichten, was geschehen war. Vielleicht hatte Alice eine Idee, wie sie den Dieb und das Buch aufspüren konnten. Die Informationen, die sie das gesamte Jahr über zusammengetragen hatten, waren zu wichtig, um in fremden Händen zu landen.
»Sicher«, gab Melissa zurück und lächelte. »Ich studiere an der Uni von Helhoughton; vielleicht sieht man sich nochmal.«
Kalila nuschelte noch eine Verabschiedung und ließ Melissa zurück. Rasch bog sie in die nächste Seitenstraße ein und blieb erst stehen, als sie sich sicher war, außer Sichtweite zu sein.
Ihr Schädel pochte noch immer von dem Schlag, den der Angreifer ihr verpasst hatte. Stöhnend massierte sie sich die Schläfen.
»Es tut mir so leid!«, ertönte mit einem Mal eine dunkle Stimme neben ihr.
Überrascht sah sie auf und fand sich Amir gegenüber. Er wirkte so blass und leblos, wie sie sich fühlte.
»Ich hätte rechtzeitiger da sein sollen.« Amir sprach hastig und zupfte sich gleichzeitig eine Feder aus dem rechten Flügel – eine nervöse Angewohnheit, die er sich seit ihrer ersten Begegnung angeeignet hatte. »Aber da war diese Melissa und...« Er verstummte.
Deswegen also hatte sie nicht den kalten Schauder spüren können, der jederzeit seine Anwesenheit ankündigte – er war die ganze Zeit über dort gewesen. Sie schob die Frage, warum er ihr gefolgt war, gedanklich beiseite; das konnte warten.
»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte sie. Durch ihren gemeinsamen Pakt waren sie auf übernatürliche Weise miteinander verbunden; das hieß, dass auch er den Schlag abbekommen hatte.
Amir nickte. »Weißt du, wie lange wir bewusstlos waren?«
»Nein.« Kalila zog ihn mit sich und überquerte die Landstraße, die zur nächsten Bushaltestelle führte. Sie mussten so schnell wie möglich von dort verschwinden. Dass ihr Angreifer sie überrascht hatte, war kein großes Kunststück gewesen. Jedoch hatte er es geschafft, sich an sie heranzuschleichen, während Amir bei ihr gewesen war. Nicht viele Leute schafften es, einem Dämon aufzulauern.
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Kalila Edward - Rebellion
Paranormal~ Band 2 ~ Auf in die Hölle! Als wären die Ereignisse des vergangenen Jahres noch nicht genug gewesen, taucht eine namenlose Gestalt in Godwick Field auf. Die Absichten des mysteriösen Unbekannten werden schnell klar: die Dämonen ein für alle mal au...