10. Ein freier Mensch

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 Es war ein mintgrün gestrichener kahler Raum, in dem ein einziges Bett am Fenster stand. Auf der Bettkante saß eine blasse Blondine in weißer Krankenhauskleidung. Dieser entfuhr ein überraschtes Quieken, als Kalila eintrat.

Kalila war auf nichts wirklich vorbereitet gewesen. Weder die Horrorszenarien, die James heraufbeschworen hatte, noch ihre eigenen. Umso überraschter war sie, als Delia vom Bett sprang und ihr entgegen lief. Noch überrumpelter war sie von der Umarmung, die folgte.

»Endlich kommt mich jemand besuchen«, murmelte Delia an ihrer Schulter und ließ sie dann los.

Noch immer ein wenig perplex musterte Kalila ihr Gesicht; die kalkweiße Haut, die eingesunkenen Augen.

»Äh...Ist Khemu nicht vorbeigekommen?«, stotterte sie.

»Ach, der zählt nicht.« Delia lachte.

Unwillkürlich musste auch Kalila schmunzeln.

»Der kommt mich eh nur besuchen, damit er sich über seine neuen Freunde beschweren kann.« Delia zog sie zum Bett und machte er sich dort gemütlich. »Scheint seine Art zu sein, Zuneigung zu zeigen.« Nachdenklich strich sie mit den Fingern über die Decke, ehe sie fortfuhr: »Er meinte, Sam gehört jetzt auch dazu. Heißt das, ihr habt uns verziehen?«

Kalila war sich nicht sicher, was sie darauf antworten sollte. Sie selbst hegte keinen Groll gegen die drei, aber ihre Freunde... »Natürlich.« Sie versuchte sich an einem Lächeln und fühlte sich dabei wie der hinterhältigste Heuchler.

Delia schien es nicht zu bemerken. »Bist du eigentlich allein hier?« Sie sah sich im Zimmer um, als halte sie nach jemandem Ausschau. »Amir kann sich ruhig sichtbar machen, ich beiße nicht.«

»Er ist nicht hier.« Kalila seufzte. Es war gefühlt bereits das hundertste Mal, dass sie die Geschichte erzählte, aber sie tat es trotzdem. Sie erklärte Delia alles, was in den letzten Monaten passiert war, und ließ kein einziges Detail aus. Als sie fertig war, fühlte sie sich seltsam erleichtert.

»Das tut mir leid«, meinte Delia. Sie klang aufrichtig. »Amir kommt bestimmt zurück. Und dein Buch finden wir schon noch irgendwie.«

Kalila bezweifelte das, behielt es aber für sich. »Die Polizei ermittelt übrigens wegen Ericas Verschwinden.« Den Teil hatte sie fast vergessen. Sie hatte aus irgendeinem Grund das Gefühl, Delia warnen zu müssen. »Vielleicht kommen die bald auch bei dir vorbei, um dich zu befragen.«

»Sie waren bereits hier«, sagte Delia zu ihrer Überraschung. »Hab denen gesagt, dass ich nichts weiß. Offiziell bin ich ja wegen einem ›Verkehrsunfall‹ hier und nicht wegen...du weißt schon.« Sie warf sich in einer übertriebenen Geste die Haare über die Schulter. »Geistig verwirrt spielen kann ich gut«, sagte sie mit einem Anflug von Stolz. Delias Schauspieltalent schien unter ihrer Zeit im Koma nicht gelitten zu haben.

Kalila stützte das Kinn in die Hand und sah aus dem Fenster. Leichter Nieselregen tropfte gegen die Scheibe. »Dann bleiben Khemu und ich wohl die Hauptverdächtigen.«

»Was ist mit Sam? Verhören die ihn nicht? Er hatte doch auch mit Erica zu tun. «

»Das scheinen die nicht zu wissen. Von uns beiden wissen sie auch nur, weil unsere Anrufe auf Ericas Handy sind.«

Delia gab ein nachdenkliches Brummen von sich. Sie griff unter ihr Kopfkissen und zog verschiedene Schminkutensilien hervor; Pinsel, Schwämmchen, Farbpaletten.

»Würde mich nicht wundern, wenn sie die Ermittlung bald einstellen. Azrael ist nicht der Typ, der Spuren hinterlässt.« Nonchalant fing sie an, sich zu schminken. »Und wenn Ezechiel welche hinterlassen hat, dann hat Azrael die längst beseitigt.«

Kalila dachte an Ericas Zeichenblock, in dem sie Ezechiels Gesicht verewigt hatte. Offenbar hatte Azrael vergessen, ihn zu beseitigen. Oder er war sich sicher, dass die Polizei Erica nie finden würde.

Als Delia gerade mit einem schwarzen Eyeliner über ihr Augenlid fuhr, fragte Kalila: »Ist das hier nicht verboten?« Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Schminke in einem sterilen Krankenhaus erlaubt war. Schon gar nicht für jemanden, der gerade aus einer Art übernatürlichem Koma aufgewacht war.

Delia zuckte mit den Schultern und begutachtete den Eyelinerstrich. »Ist mir egal. Ich bin jetzt ein freier Mensch, kann machen was ich will.« Eine kurze Pause. »Mir schreibt keiner mehr was vor.«

»Aber hier sieht dich doch eh niemand.«

»Ich schminke mich auch nicht für andere.« Delia lächelte in ihren kleinen Handspiegel. »Nur für mich selbst.«

Delia schien nun erst recht gesprächig zu sein. Sie erzählte ihr, dass sie ihren Schulabschluss nachholen musste, weil sie das letzte Jahr nicht beenden konnte.

»Das wird zwar komisch sein, wenn ihr alle zur Uni geht und ich wieder die Schulbank drücken muss...andererseits kann ich das letzte Jahr nochmal so richtig genießen.« Sie lächelte versonnen. Dass sie vollkommen allein in Godwick Field zur Schule gehen musste, machte ihr offenbar nichts aus.

Kalila spürte, dass sie viel glücklicher wirkte, als das letzte Mal, dass sie sich gesehen hatten. »Vermisst du deinen Dämon nicht?«

Daraufhin überlegte Delia kurz. »Was ich nicht vermisste, ist, irgendwelche Drecksarbeiten für Azrael zu erledigen. Das kann Lucien jetzt alleine machen.« Sie griff in die Tasche ihres Krankenhauskittels und zog die leere Hand mit einer verwirrten Miene wieder heraus.

Es dauerte einen Moment, bis Kalila begriff, dass Delia nach ihrer Münze hatte greifen wollen. Eine Gewohnheit, die auch sie sich angeeignet hatte.

»Was ich schon vermisse: Jederzeit einen Freund auf Abruf zu haben.«, sagte Delia. »Selbst, wenn es nur ein falscher Freund war.«

»Naja, diese Dämonen lassen sich auch nur blicken, wenn sie gerade Lust haben«, meinte Kalila trocken.

»Wie meinst du das?«

Mit einem Seufzer erzählt sie ihr von ihren erfolglosen Versuchen, Amir zu rufen.

»Das ist seltsam«, meinte Delia. »Soweit ich weiß, haben vertraglich gebundene Dämonen keine andere Wahl, als auf einen Ruf zu antworten.« Sie hob eine Augenbraue. »Immerhin ist das der Sinn eines Vertrags.«

Kalila musste schlucken. Wenn das die Wahrheit war, dass musste Amir wirklich in Schwierigkeiten stecken.

Beide unterhielten sich noch lange, bis es für Kalila Zeit war, zu gehen. Eigentlich hatten sie nie über das Freundschaftsangebot gesprochen, das Delia ihr vor einem Jahr gemacht hatte. Aber sie hatte trotzdem das Gefühl, eine Verbündete in ihr zu haben. Und das fühlte sich gut an.

Kalila Edward - RebellionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt