Kapitel 5

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We all know
That you'll go tell all of your friends
That I'm the one you wish you never met




Koushi


Wieso musste ausgerechnet Daichi Sawamura Torioos Onkel sein? Das musste ein grausamer Scherz des Schicksals sein. In diesem Moment als er mitten in meinen Elternabend hereingeplatzt ist, ist mein Herz, welches ich all die Jahre mühsam zusammengeflickt hatte, in tausend Teile zersprungen. Nach all den Jahren hatte ich endlich das Gefühl gehabt, dass ich ihn vergessen könnte. Dass ich langsam mein Leben fortführen könnte. Ohne, dass meine Gedanken ständig bei ihm waren. Bei einem Mann, der wahrscheinlich schon längst mit einer hübschen Frau verheiratet war und nun so etwas wie einen weiteren Sohn hatte.
Mir war immer bewusst gewesen, dass es für uns nie eine Chance gegeben hatte. Daichi Sawamura war nicht schwul und würde es auch nicht mehr werden.

In der Sekunde in der ich Daichi erblickt hatte, hatte sich mein Magen krampfhaft zusammengezogen und ich mich zusammenreißen, um mich nicht zu übergeben. Jede Faser in meinen Körper schrie mich an, dass ich aus diesem verdammten Raum fliehen sollte, dass ich nach Hause fahren sollte.

Noch immer tat es weh ihn zu sehen. Mit ihm in einem Raum zu sein und dieselbe Luft zu atmen. Dabei waren zwölf lange Jahre vergangen. Ich sollte nichts mehr für ihn empfinden. Er sollte mir gleichgültig sein, denn das war ich für ihn auch. Mein Herz sollte nicht mehr höherschlagen, wenn er in meiner Nähe war. Nicht nachdem, was er mir angetan hatte...

Es vergingen einige Sekunden in der ich ihn nur geschockt anstarrte. Sein dunkelbraunes Haar war kürzer geworden und standen in allen Richtungen ab. Seine dunkelbraunen Augen strahlten noch immer dieselbe Wärme aus, wie früher, aber ich erkannte darin auch einen tiefen Schmerz. Bläuliche Schatten zeichnete sich unter seinen Augen ab. Ein Zeichen, dass er viel zu wenig schlief. Es war sicher hart ein Familienmitglied durch einen Unfall zu verlieren. Der Drang, zu ihm zu gehen und ihn in den Arm zu nehmen, wuchs in mir, während gleichzeitig eine Stimme in meinen Hinterkopf flüsterte, dass er es nicht verdiente. Daichi Sawamura sah zwar aus wie der liebe, nette Nachbar von neben an. Aber er war niemand, den man vertrauen sollte und verdiente auch kein Mitleid. Sawamura war ein Arschloch. Nicht mehr und nicht weniger. Es gab Millionen von Möglichkeiten, wer Torioos Onkel hätte sein können und ausgerechnet er war sein Onkel. Daichi, den ich nie wieder in meinen Leben sehen wollte. Er hatte schon genug Schaden angerichtet.

In diesem Moment hatte ich meinen Job verflucht und ich hatte nur ganz schnell weg gewollt. Leider konnte ich nicht einfach den Abend ohne ersichtlichen Grund beenden, weshalb ich die letzte halbe Stunde irgendwie überstehen musste. Krampfhaft vermied ich den Blick in seine Richtung und versuchte Daichi aus meinen Gedanken zu verbannen. Meine Aufmerksamkeit versuchte ich auf die anderen Eltern zu lenken und ihre Fragen bestmöglich zu beantworten. Sie waren eine willkommene Ablenkung, aber egal wie sehr ich es auch versuchte nicht an ihn zu denken, kehrten meine Gedanken immer wieder zu Daichi zurück. Warum musste er ausgerechnet hier auftauchen? Nach all den Jahren, wo ich es gemieden hatte auf ihn zu treffen, taucht er plötzlich hier auf. An einem Ort, wo ich gedacht hatte, dass ich ihn hier nie sehen würde.


Ein erleichterter Seufzer entglitt meinen Lippen, als ich endlich den Elternabend beenden konnte. Noch nie haben sich dreißig Minuten so lang angefühlt und ich wollte nur noch so schnell wie möglich nach Hause. Im Kühlschrank wartete eine Flasche Wein auf mich. Die ich heute Abend definitiv gebrauchen konnte. Die Eltern meiner Schüler machten sich bereit für den Aufbruch und auch ich packte meine Sachen in die Lehrertasche. Eigentlich hatte ich vorgehabt mit Miwas Erziehungsberechtigten über sein eisernes Schweigen zu reden. Ich wollte den Schulalltag so angenehm wie möglich für ihn machen und vielleicht gab es auch eine Lösung, wie mein Schüler mit uns Lehrern kommunizieren konnte. In seiner aktuellen Situation konnte er keine Fragen über den Stoff stellen und ich konnte nur erahnen, ob er die Sachen verstand, die ich im Unterricht erklärte. Allerdings wusste ich da noch nicht, dass Daichi derjenige sein würde, der für Miwa verantwortlich war. Ich wusste, dass dieses Gespräch wichtig war, aber in diesem Moment überlegte ich es einfach nicht zu führen.

Daichis Taten hatten tiefe Wunden hinterlassen. Sie waren über die Zeit zwar etwas verheilt, aber ich hatte Angst, dass sie wieder aufreißen würden, wenn wir ein Gespräch unter vier Augen führten. Ich wusste, dass Miwa keinerlei Schuld an Daichis Verhalten hatte und ein Kind leiden würde, wenn ich nicht mit ihm sprach. Aber es wäre einfacher zu gehen, aber die Pflicht gegenüber meinem Schüler war stärker, als meine Angst.

Nervös bis ich mir auf die Lippen und schloss meine Tasche, während ich einen kurzen Blick in Daichis Richtung warf. Ein kleiner Teil von mir hoffte, dass er schon längst verschwunden war und ich so gar keine Gelegenheit bekam das Gespräch zu beginnen. Es wäre nicht abwegig, denn zu Schulzeiten hatte er es nicht ertragen können, wenn wir gemeinsam in einem Raum waren.

Aber das Glück schien heute nicht auf meiner Seite zu sein, denn Daichi stand noch immer im Raum und trat von einem Bein aufs andere. Das bedeutete, dass ich wohl das Gespräch führen würde. Für Miwa. Nicht für mich.
Ich holte tief Luft und räusperte mich, um Daichis Aufmerksamkeit zu erlangen. Gleichzeitig zog sich mein Brustkorb schmerzhaft zusammen. Mein Herz erinnerte sich noch viel zu gut an den Schmerz.

„Herr Miwa, hätten sie noch ein paar Minuten Zeit? Ich müsste mit ihnen kurz über ihren Neffen sprechen." Ich war selbst von mir überrascht wie ruhig und gefasst meine Stimme klang. Ich hatte gedacht, dass ich meine Fassung verlieren würde, wenn ich allein mit ihm in einem Raum war.
Daichi wandte sich zu mir und schluckte einmal, bevor er kurz nickte.

„Sawamura", korrigierte Daichi mich, „Nur Torioo heißt mit Nachnamen Miwa."
Nun war ich derjenige, der nickte. Natürlich kannte ich seinen richtigen Nachnamen, aber es fiel mir leichter, einfach so zu tun, als wären wir nie gemeinsam auf eine Schule gegangen und hätten nicht unsere Teenagerzeit zusammen verbracht.

„Entschuldigen Sie", fuhr ich fort und fixierte eins der Plakate die hinter Daichi an der Wand hingen. Es fiel mir leichter mit ihm zu reden, wenn ich ihn nicht direkt ansah.

„Miwa ist nun schon seit einigen Wochen in der Klasse und ehrlich gesagt macht mir sein Verhalten Sorgen. Meine Kollegen und ich haben ihn noch kein einziges Wort sagen gehört. Weder im Unterricht noch in den Pausen. Dieses Verhalten ist äußert bedenklich. Vor allem weil wir so nicht nachvollziehen können, wie gut er den Stoff versteht." Es war besser, wenn ich direkt auf den Punkt kam. Je schneller ich das Gespräch hinter mir brachte, desto eher konnte ich nach Hause gehen und die Flasche Wein leeren. Die Wahrscheinlichkeit war dann auch geringer, dass alte Gefühle wieder von Neuem entflammten. Für einen Mann der sich nicht für andere Männer interessierte. Der es auch nie tun würde...

„Ich weiß", murmelte Daichi, „Entschuldigen Sie, dass er Ihnen so viele Sorgen bereitet, aber bitte geben Sie ihm noch etwas Zeit. Der Sommer war für ihn ziemlich hart und dazu kommt noch die neue Umgebung. Ich glaube er braucht einfach noch etwas Zeit bis er hier angekommen ist. Mir ist bewusst, dass er momentan schweigt, aber wir arbeiten daran."

Ich wusste von dem Autounfall bei dem Torioos Eltern verunglückt waren. Allerdings beschloss ich die Information Daichi nicht auf die Nase zu binden. Er hatte bestimmt seine Gründe, weshalb er mir diese Information nicht sagte und ehrlich gesagt, war es besser, wenn ich so wenig wie möglich aus seinem Leben wusste. Wir waren Fremde und so sollten wir uns auch behandeln. Außerdem würde er meiner Hilfe nicht wollen, denn in seinen Augen war ich nichts weiter als Ungeziefer.

Meine Gedanken drohten abzudriften. Ein dicker Kloß bildete sich in meiner Kehle, als ich an unsere Vergangenheit dachte. Ich spürte wie sich Tränen in meine Augen sammelten. Fest entschlossen jetzt nicht vor Daichi zusammenzubrechen, ballte ich meine Hände zu Fäusten und vergrub meine Fingernägel in meine Handfläche. Entschlossen schob ich die Erinnerungen in die hinterste Ecke meines Kopfes. Mit ihnen konnte ich mich zu Hause beschäftigen. Jetzt musste ich meinen Job als Lehrer nachgehen.

„Das verstehe ich, aber trotzdem müssen wir eine Lösung finden. Zurzeit gibt es keinerlei Möglichkeiten zu überprüfen, ob Miwa den Stoff verstanden hat."

„Natürlich...", stimmte Daichi mir zu. Innerlich stieß ich einen erleichterten Seufzer aus. Wenigstens war er so vernünftig und schien zu wissen, dass es in diesem Moment nicht um uns ging und zeigte sich kooperativ.
„Ich werde mir eine Lösung einfallen lassen, aber dafür brauche ich noch etwas Zeit."

Gut, mehr brauchte ich nicht hören. Normalerweise würde ich den Eltern meine Hilfe anbieten, aber in dieser Situation entschied ich mich, dass es besser war, jetzt das Gespräch zu beenden und Daichi mit dem Problem allein zu lassen. Es wäre für mein Herz nicht gut noch länger mit ihm zu sprechen.

„Gut. Informieren sich mich einfach, wenn sie eine Lösung für das Problem haben", beendete ich entschieden das Gespräch. „Ich wünsche ihnen noch einen schönen Abend." Mit diesen Worten schulterte ich meine Tasche und verließ den Klassenraum, während mein Herz sich wieder schmerzhaft zusammenzog. Ich wartete nicht auf eine Verabschiedung von Daichi oder ob er noch irgendwelche Fragen hatte. Das Einzige, was jetzt zählte, war das ich so viel Abstand wie möglich zwischen uns brachte. Bevor er mein Herz wieder in tausend Stücke riss.


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