Kapitel 11

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And prayed you'd stay
And I told myself that it'd be fine
I wish I could have just said somethin'



Sugawara:

Es war schon lange her, dass ich wegen Daichi kein Auge zugetan hatte. In meiner Studienzeit gab es oft Nächte, in denen ich wach in meinem Bett lag und an ihn dachte. Ich wusste nicht, was mich dazu gebracht hatte, die Nacht auf Daichis Sofa zu verbringen. Es war eigentlich von Beginn an klar gewesen, dass ich hier nicht schlafen konnte. Nicht in der Wohnung von meiner Jugendliebe. Der Plan sah vor, nur so lange zu bleiben bis Daichi wieder nach Hause kam. Nur auf Miwas Wunsch war ich überhaupt hierhergefahren. Es war das Beste für mein Herz, wenn ich so wenig Zeit wie möglich in Daichis Nähe verbrachte. Er weckte in mir nur Gefühle, die ich all die Jahre in die hinterste Ecke meines Gedächtnisses gesperrt hatte. Dabei sollte man meinen, dass ich nur noch Hass für Daichi verspürte, nachdem was er mir alles angetan hatte. Aber wenn ich in seiner Nähe war, war da keine Verachtung oder Wut. Im Gegenteil. Mein Herz schlug einen Moment lang höher, wenn ich ihn sah. Ich bekam Gänsehaut, wenn er sprach und da war dieses Kribbeln in meinen Bauch, wenn ich an ihn dachte. Ich sollte ihn nicht mehr begehren.

Aber die tiefen Gefühle für Daichi konnte ich nicht einfach so ausschalten und offenbar verschwanden sie auch nicht einfach mit der Zeit.
Ein winziger Teil von mir hatte all die Jahre immer etwas für Daichi empfunden.
Genau dieser Teil hatte auch heute die Kontrolle über meinen Körper genommen, als ich Daichi heulend in der Küche vorgefunden habe. Zusammen gekauert saß er auf dem kalten Fließen, den Kopf zwischen seinen Armen vergraben. Seine Schultern bebten bei jedem Schluchzer, der aus seiner Kehle kam. Daichi war ein einziges Häufchen Elend. Noch nie hatte ich ihn in einen so verletzlichen Zustand gesehen und es brach mir das Herz.

Der sonst so starke Daichi war unter der Last zusammengebrochen und damit ganz allein. Schon zu Schulzeiten war er immer derjenige gewesen, der alle aufgefangen hatte. Aber in dem Moment wo er jemand brauchte, der ihn auffing, schien er ganz allein zu sein. Ich hatte schon geahnt, dass es auch für Daichi die Situation nicht leicht war und er genauso unter den Verlust seiner Verwandten litt wie sein Neffe.
Aber nie wäre mir in den Sinn gekommen, wie er hilflos versuchte nicht unter all den Gefühlen zu ertrinken.

Auch wenn ich es noch bitter bereuen würde, machte ich es mir zur Pflicht bei ihm zu bleiben. Ihn in den Arm zu nehmen und einen Teil seiner Last abzunehmen. In diesem Moment hatte der irrationale Teil, der immer noch an Daichi hing, die Oberhand gewonnen und meinen Verstand vollkommen ausgeschaltet. Ich hatte mich neben ihn gesetzt, vorsichtig meine Arme um seinen Körper geschlungen und versucht Daichi den Schmerz zu nehmen. Ich wusste wie eng das Verhältnis von Daichi zu seiner Familie gewesen war und dass Daichis Familie ihm viel bedeutet hatte.

Seine Eltern waren immer so herzlich gewesen und in jeden Blick, spürte man die Liebe zu ihren Kindern. Nie hatten sie Daichi verurteilt oder ihn für seine Handlungen kritisiert. Egal welche Träume Daichi gehabt hatte, er wusste, dass er sich immer auf seine Familie verlassen konnte. Daichi hatte immer die Familie gehabt, die ich mir gewünscht hatte. Wie sehr wollte ich, dass meine Eltern mich so akzeptieren wie ich bin und mich bei meinen Träumen unterstützte. Anstatt sie schlecht zu reden und mir lieber ein Leben aufdrücken wollten, in der ich todunglücklich geworden wäre. Ihnen waren meine Bedürfnisse immer egal. Hauptsache mein Leben, meine Freunde und mein Aussehen passten zu ihren Vorstellungen.

Zwei lange Stunden saß ich neben Daichi auf dem Boden und hatte ihn einfach nur gehalten. Noch nie hatte ich ihn so fertig erlebt. Seine Augen waren vom Weinen rot unterlaufen und glasig. Sein Blick war leer. Mit seinen Gedanken war er weit weg. Fernab von dem Hier und Jetzt. Das konnte ich spüren. Seine Schultern hingen kraftlos hinab.
Irgendwie hatte ich es geschafft ihn ins Schlafzimmer zu bringen, wo er erschöpft auf sein Bett sank und sofort einschlief.

Daichi war sonst immer der Stärkste gewesen, derjenige der die Fassung bewahrt hatte, wenn alle um ihm herum zusammengebrochen waren. Er war der Fels in der Brandung. Das Fundament des Volleyballteams. Nie hätte ich gedacht, ihn so schwach zu sehen. Mir wäre noch nicht einmal im Traum eingefallen, dass das möglich war.
Ihn so fertig zu sehen, zerbrach mir das Herz.

Spätestens jetzt hätte ich gehen sollen, aber da war noch immer Miwa, Daichis Neffe. Inzwischen stand er im Türrahmen des Schlafzimmers und blickte mich mit großen Augen an. Ich konnte deutlich die Unsicherheit und Angst in seinen Augen erkennen.

„Herr Sugawara?", seine Stimme war kaum mehr als ein heißeres Flüstern. Seine Augen huschten von mir zu Daichi und dann wieder zurück.

Meine Kehle schnürte sich zu und ich schluckte kurz. Wie viel hatte er mitbekommen? Wahrscheinlich mehr, als er für ein Kind gut war.
„Geht es Onkel Daichi gut?"

Ich blickte noch einmal kurz zu dem schlafenden Daichi, dann wandte ich mich an Miwa. Irgendjemand musste sich jetzt um ihn kümmern. Daichis Neffe sorgte sich um seinen Onkel und musste auch ins Bett geschickt werden. Vor Miwa ging ich in die Hocke und schenkte dem Jungen ein aufmunterndes Lächeln.

„Ja. Weißt du, er hatte einen langen harten Tag hinter sich. Was er jetzt braucht ist Ruhe und ganz viel Schlaf." Miwa blickte mich mit großen Augen an und nickte leicht.

„Und du solltest jetzt auch schlafen gehen, damit du morgen ausgeruht bist", fuhr ich fort und schob ihn sanft aber bestimmt aus dem Schlafzimmer. Hinter mir schloss ich leise die Tür. Ohne Widerworte putzte sich Miwa die Zähne und ging ins Bett nachdem ich ihm noch einmal versicherte, dass es Daichi gut ging. Sobald ich das Kinderzimmer verließ, konnte ich gehen. Aber der Gedanke beide in dieser Nacht allein zu lassen, war mir zuwider

Stattdessen machte ich mir auf der Couch bequem und versuchte selbst zu schlafen. Allerdings kreisten meine Gedanken unaufhaltsam um Daichi und ließen mich einfach nicht zu Ruhe kommen. Unruhig wälzte ich mich auf dem Sofa hin und her bis draußen die Sonne aufging und ich die ersten Vögel zwitschern hörte. Bald würde Daichi aufstehen und dann würde ich wieder vor ihm stehen. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie Daichi reagierte, wenn er bemerkte, dass ich die Nacht unerlaubter Weise auf seiner Couch verbracht hatte. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Was, wenn ihm bewusst wurde, dass ich ihn gestern Abend in meinen Armen gehalten hatte? Wenn ihm bewusst wurde, wie sehr er sich an mich geklammert hatte? Obwohl er mich doch so abstoßend fand...

Daichi hasste mich. Unter anderen Umständen würde er nie das zulassen, was letzte Nacht zwischen uns passiert war. Wenn er bemerkte, dass ich mich noch immer in seiner Wohnung befand, würde er mich im hohen Bogen rauswerfen und mich anbrüllen, dass ich nie wieder auch nur einen Fuß in seine Nähe setzen sollte. So leise wie möglich stand ich auf und griff nach meine Jeans. Je schneller ich von hier verschwand, desto besser war es. Außerdem war es gut, wenn ich vor der Arbeit nochmal nach Hause gehen konnte, um mir frische Sachen anzuziehen.

Kaum hatte ich den Knopf meiner Hose geschlossen, schlich ich mich zur Haustür, öffnete die Wohnungstür und verschwand unbemerkt aus Daichis Wohnung. Die Schuhe zog ich mir im Hausflur an.

Zuhause angekommen genehmigte ich mir als Erstes eine Tasse Kaffee. Die Müdigkeit machte sich in meinen Gliedern schon bemerkbar, aber ich würde erst schlafen können, wenn ich am Nachmittag wieder in meiner Wohnung war. Noch immer kreisten meine Gedanken um Daichi. Wie konnte ich noch immer jemanden lieben, der mir das Herz zerbrochen hatte?

Ich wusste, dass ich Abstand halten sollte. Die Stimme der Vernunft sagte mir, dass das Ganze nicht gut ausgehen konnte und ich wusste das auch selbst, aber trotzdem schaffte ich es nicht mich von ihm fernzuhalten.

Während ich den ersten Schluck von dem bitteren Gebräu trank, sah ich kurz auf mein Handy. Ich wusste nicht, was ich mir davon erhoffte, aber als ich sah, dass Daichi mir weder eine Nachricht geschrieben noch anrief, zog sich mein Herz zusammen. Es war dämlich. Uns verband nichts mehr und er hatte nicht um meine Gesellschaft gebeten.

Er wollte nicht, dass ich derjenige war, der ihn auffing und das sollte ich akzeptieren. Zu meinem eigenen Schutz. Und warum sollte er mir auch heute morgen schreiben? Es gab dafür keinen Grund. Meine Brust zog sich dennoch zusammen und in mir wuchs das Bedürfnis mit jemanden zu reden.

Ohne genau zu überlegen, flogen meine Finger über das Display und wählten Asahis Nummer. Es klingelte einige Male und ich war kurz davor aufzulegen, als Asahis verschlafene Stimme den Anruf entgegennahm.
„Sugawara... was ist denn los?"

Ich schluckte kurz und biss mir auf die Lippen. Wahrscheinlich wurde Asahi durch meinen Anruf geweckt und ich wusste noch nicht einmal, was ich sagen sollten. Wir redeten nicht über Daichi und auch jetzt wollte ich nicht über ihn reden. Er wusste nicht, was damals vorgefallen war und das sollte auch so bleiben. Ich wollte nicht, dass er oder irgendjemand anderes aus dem ehemaligen Volleyballteam in eine Sache hineingezogen wurden, die durch meine Dummheit verschuldet war. Wieso wählten auch meine Finger automatisch seine Nummer? Von Anfang an hätte ich wissen müssen, dass Daichi niemals meine Gefühle erwidern würde. Er stand nicht auf Männer und dafür hatte es mehr als genug Anzeichen gegeben.

Aber einfach so aufzulegen oder ihn anzulügen, konnte ich auch nicht. Asahi war mein bester Freund. Mit ihm hatte ich meine Schulzeit verbracht und auch danach waren wir immer in Kontakt geblieben. Er hatte mir geholfen, als ich mich vor meinen Eltern geoutet habe und sie den Kontakt abbrachen. Ich zwang mich einmal tief durchzuatmen. Asahi hatte es nicht verdient, dass ich ihn früh morgens weckte und dann wieder einfach auflegte. Er würde dann sofort wissen, dass etwas vorgefallen war! Komm schon! Ich werde es schon schaffen einen kleinen unbedeuteten Plausch zu halten! Smalltalk machte ich doch immer auf der Arbeit. Also bekam ich das wohl auch mit einem Freund hin!

„Ich... wusstest du, dass Daichis Schwester bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist?", platzte es aus mir heraus. Sofort biss ich mir auf die Unterlippe und verfluchte mich innerlich. Seit zwölf Jahren hatte ich Daichis Namen nicht vor meinen Freunden ausgesprochen. Ich wollte nicht, dass sie sich für eine Seite entscheiden mussten.

„Ähm... ja, das wusste ich" Es dauerte einige Sekunden bis Asahi mir zögernd und sichtlich überrascht antwortete. Im Hintergrund hörte ich das Rascheln einer Bettdecke.

„Aber, wie kommst du jetzt darauf? Du...redest doch sonst nicht mit Daichi oder über ihn", räusperte sich Asahi nach einigen Sekunden. Ich schluckte kurz und hoffte, dass der dicke Kloß in meinen Hals verschwand. Langsam stellte ich meine Tasse auf den Küchentisch und ließ meinen Blick durch die Wohnung schweifen. Verdammt! Ich hatte genau das Thema angesprochen, was ich vermeiden wollte. Eine Ausrede wäre jetzt auch zwecklos, denn Asahi kannte mich gut genug, um zu wissen, dass ich so eine Frage nicht einfach so stellte.

„Nun...ich habe gestern auf seinen Neffen aufgepasst und dann, als ich ihn nach Hause gebracht habe, habe ich gesehen wie Daichi geweint hat...Ihm geht es echt beschissen...", murmelte ich. Ich beschloss einfach die Wahrheit zu sagen.

„Du passt auf Torioo auf?" Als Antwort bekam ich nur eine Gegenfrage. Automatisch nickte ich.

„Ja." Mehr brachte ich als Antwort nicht zustande. Wieder raschelte die Bettdecke.

„Asahi, mit wem telefonierst du so früh?" Im Hintergrund hörte ich Yuss verschlafene Stimme. Anscheinend hatte ihn das Telefonat geweckt. Schuldbewusst biss ich mir auf die Unterlippe.

„Tut mir leid, dass ich euch geweckt habe", murmelte ich in den Hörer und fuhr mir durchs Haar. „Es ist nur..."

„Du bist verwirrt und weißt nicht, wie du dich fühlst"
Damit traf er voll ins Schwarze.

Seitdem ich vor zwei Tagen wieder mit Daichi in Kontakt stand, herrschte in mir ein einziges Chaos. Mein Herz hatte immer noch Gefühle für ihn und wurde von ihm angezogen. Wie die Motte vom Licht. Gleichzeitig sagte mir die Stimme der Vernunft, dass es sinnlos war sich Hoffnungen zu machen. Ich kannte Daichis Standpunkt und daran würde sich nichts ändern. Egal, was ich tat. Ich wusste, dass der Kontakt mir nicht gut tat, aber ich konnte ihn auch nicht einfach so im Stich lassen. Nicht nachdem ich gesehen hatte, wie sehr unter dem Verlust seiner Familie litt.

„Ja... Es ist irgendwie...kompliziert..." Ich hatte nie mit Asahi über meine Gefühle für Daichi geredet und ehrlich gesagt wusste ich nicht, wie ich das alles erklären sollte. Es war viel passiert. Asahi seufzte leise.

„Habt ihr miteinander geredet?" Kurz runzelte ich die Stirn. Worüber sollten Daichi und ich noch reden? Damals hatten wir uns alles gesagt und seitdem gingen wir getrennte Wege. Es gab nichts mehr, worüber wir reden mussten.

„Nun...er hat mir von dem Unfall erzählt", antwortete ich.

„Nur von dem Unfall?", hakte er nach und wieder nickte ich bis mir einfiel, dass er mich gar nicht sehen konnte.

„Ja...aber wieso fragst du?"
Asahi schwieg für einige Minuten und ich hörte, wie er schluckte.

„Magst du Daichi noch?" Was sollte denn jetzt die ganze Fragerei?
Ich brauchte einige Minuten, um ihm zu antworten. Mochte ich Daichi noch? Es dauerte einige Sekunden, bis ich in mir meinen Gefühlsturm sortiert hatte, aber sie waren eindeutig: Ich mochte noch immer Daichi. Wahrscheinlich sogar viel mehr, als ich bis jetzt angenommen hatte. Trotz allem, was vorgefallen war, waren meine Gefühle immer noch sehr eindeutig. Ich fühlte mich mit jeder Faser meines Körpers zu Daichi hingezogen. Aber das konnte ich Asahi unmöglich sagen.

„Irgendwie schon, ja", murmelte ich und schloss die Augen. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was in Daichis Leben vorgefallen war und trotz allem, was geschehen war, wollte ich wissen, was los war.
„Was ist passiert?"

Asahi seufzte am anderen Ende der Leitung.
„Suga", seine Stimme klang ungewöhnlich sanft. Mein Herz zog sich unwillkürlich zusammen. Ich wusste, dass das was Asahi mir gleich sagen würde, mir nicht gefiel.
„Du solltest darüber mit Daichi reden."

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