Kapitel 10

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How to be brave

How can I love when

I'm afraid to fall



Daichi:

Es gab Tage an denen es mir schwer fiel aufzustehen. Heute war so einer. Das Klingeln des Weckers riss mich schlagartig aus meinem traumlosen Schlaf und beförderte mich wieder zurück in die Realität. Eine Welle des Schmerzes erfasste meinen Körper als mir bewusstwurde, dass ich nie wieder meine Mutter und meine Schwester sehen würde. Niemals würden sie mit ansehen, wie Torioo eines Tages heiratete. Torioo würde niemals einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester bekommen. Nie wieder würden wir alle gemeinsam an einem Tisch sitzen, reden und gemeinsam lachen. Am liebsten würde ich für immer in meinem Bett bleiben. Mich unter meiner Bettdecke verkriechen und die grausame Realität vergessen. Mich vor der Welt verstecken. Aber da war Torioo, mein Neffe, der mich brauchte. An solchen Tagen, wo der Schmerz des Verlustes so groß war, gab mir der Junge Kraft aufzustehen und so zu tun, als wäre alles in Ordnung. In letzter Zeit fiel es mir immer schwerer gegenüber Torioo ein fröhliches und unbeschwertes Gesicht zu machen. Tagsüber vergrub ich all meine Gefühle hinter einer Fassade der Fröhlichkeit, die jeden Abend einbrach. Nur in den Nächten erlaubte ich es mir meinen Emotionen freien Lauf zu lassen und weinte mich fast täglich in den Schlaf. Wenn das nicht schon genug wäre, trat ausgerechnet jetzt auch noch Koushi wieder in mein Leben ein. Der Mann, den ich schon seit Jahren liebte und versuchte loszulassen. Wieso musste er Torioos Klassenlehrer sein? Aber eigentlich war es nicht verwunderlich. Schon zu Schulzeiten war es Koushis Traum gewesen Grundschullehrer zu werden. Aber ausgerechnet hier? In Miyagi? Zum Studium war er weggezogen und hätte er nicht einfach dort nicht einfach sesshaft werden können?

Ich hatte gesehen, wie viel er lernte, um die Noten zu bekommen, die man für das Studium brauchte. Als ich hörte, dass er für sein Studium wegzog, hatte ich gedacht, dass ich unsere gemeinsame Vergangenheit hinter mir lassen könnte. All die Jahre hatte ich ihn nicht gesehen und war nicht davor vorbereitet, dass mein Herz einen freudigen Satz machte, als ich Koushi wiedersah. Seitdem wuchs in mir das Verlangen mich zu erklären. Mit Koushi über die Geschehnisse zu reden, aber dazu war es längst zu spät. Er schien mit seinem jetzigen Leben glücklich zu sein und die Vergangenheit hinter sich gelassen zu haben. Koushi hatte sich ein Leben ohne mich aufgebaut mit dem er zufrieden war Es wäre unfair, wenn ich ihn jetzt wieder in eine Zeit zurückriss, die wahrscheinlich die schlimmste seines Lebens war. Damals hatte ich ihm das Herz gebrochen und ich hasste mich selbst dafür. Das, was ich ihm damals angetan hatte, hatte er nicht verdient. Auch wenn ich es aus bestem Gewissen getan hatte.

Ehrlich gesagt wusste ich nicht, wie ich mich aus dem Bett gequält habe, um Torioo zu wecken und ihn zur Schule zu bringen. Irgendwie hatte ich es auf Arbeit geschafft und meine Schicht über mich ergehen lassen. Durch den Ausfall des Kollegen hätte ich zwar eigentlich eine Doppelschicht schieben müssen, allerdings schien ich einmal im Leben etwas Glück zu haben und mein Chef hatte kurzfristig den Arbeitsplan ändern können, sodass mir ein langer Tag erspart blieb. Am liebsten wäre ich direkt nach Hause gefahren und hätte mich wieder in mein Bett verkrochen, aber schon seit Tagen herrschte in meinen Kühlschrank gähnende Leere. Ich schaffte es einfach nicht einkaufen zu gehen und besorgte nur das nötigste. Das schlechte Gewissen gegenüber Torioo wuchs ins Unermessliche. Zu mein Bedauern hatte ich heute Morgen auch noch feststellen müssen, dass Torioos Lieblingscornflakes leer waren und auch eine Alternative hatten wir nicht mehr im Haus gehabt. Torioo hatte es nicht gestört, aber es hatte sich wieder einmal so angefühlt, als würde ich als Onkel auf ganzer Linie versagen. Auf dem Weg zur Schule waren wir noch schnell in einen Supermarkt gegangen, damit er nicht mit leeren Magen im Unterricht sitzen musste.

Eigentlich hätte ich zuerst Torioo abholen und dann einkaufen gehen sollen, aber ich fühlte mich nicht bereit Koushi unter die Augen zu treten und wollte das unweigerliche Treffen noch ein paar Minuten hinauszögern.

In meiner Wohnung stellte ich die Einkaufstüten in die Küche, als ich spürte wie meine Fassade einriss und der Schmerz die Oberhand gewann. Ich konnte die Tränen nicht mehr aufhalten, die sich unbarmherzig ihren Weg über mein Gesicht bahnten. Mein ganzer Körper zitterte und meine Beine versagten den Dienst. Ich spürte wie meine Knie die kalten Bodenfliesen berührten. Ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen und blieb einfach liegen. Warum sollte ich auch noch einmal aufstehen? Meine Familie war nicht mehr bei mir. Nur weil sich ein Idiot betrunken ans Steuer setzen musste! Nur wegen ihm war das Fahrzeug meiner Schwester abgekommen und hatte sie in den Tod befördert. Mit einem Schlag hatte ich alle, die mir nahe standen verloren. Es gab noch so vieles, was ich mit meiner Familie hatte erleben wollen. Ein Teil von mir weigerte sich zu akzeptieren, dass es nie wieder Familienfeiern geben würde. Keine gemeinsamen Wochenenden und Ausflüge, wo wir alle zusammen lachte. Keine gemeinsame Zeit...

Mein Herz setzte für einen Schlag aus, meine Brust zog sich schmerzhaft zusammen und ich war mir nicht sicher, ob ich jemals wieder selbständig atmen konnte.

Es gab so viele Dinge, die ich ihnen noch hätte sagen wollen und die Erinnerungen an meine Familie erschien mir viel zu wenig. Nach der Schule hatte ich direkt die Ausbildung als Polizist begonnen, um nicht mehr an Koushi denken zu müssen. Aber dadurch hatte ich auch weniger Zeit mit meiner Familie verbringen können und jetzt hatte ich das Gefühl, dass ich etwas verpasst hatte. Nur selten hatte ich meine Schwester in Yamagato besuchen können und dass, obwohl wir uns immer nahegestanden haben. Sie war auch die Einzige mit der ich damals über Koushi redete. Damals hatte sie noch gemeint, dass ich einen Fehler begehen würde. Natürlich wollte ich als Jugendlicher nicht auf sie hören. Ich war schließlich zwei Minuten älter und damit derjenige, der die Welt besser verstand. Einen Scheißdreck hatte ich verstanden und jetzt saß ich hier. Auf dem Boden in meiner Küche und hatte niemanden mehr.

All die Jahre hatte ich auf meinem Weg alle zurückgelassen, die mir wichtig waren, aber ich hatte es nie bemerkt. Jetzt stand ich hier mutterseelenallein und wusste, dass niemand mehr an meine Seite kommen würde, denn keiner der Menschen, die ich liebte würde einen Weg wieder zu mir zurückfinden.

Unablässig tauchten vor meinem inneren Auge Momente auf, die ich mit meiner Familie verbracht hatte und die mir schmerzhaft bewusst machten, was ich für ein Glück hatte mit so wunderbaren Menschen aufgewachsen zu sein. Zwar hatten wir Geschwister uns auch gestritten, aber am Ende des Tages hatten wir uns immer verstanden und das war das wichtigste. Und die Tatsache, dass meine Schwester und ich uns besser gekannt hatten, als kein anderer, machte den Schmerz des Verlustes nur noch größer. Sie hatte immer sofort gewusst, wenn ich traurig oder irgendetwas passiert war. Dafür musste sie mich noch nicht mal sehen. Sie hatte es gespürt. Manchmal hatten wir sogar denselben Gedanken gehabt und jetzt war sie weg. Für immer...

 ♦♦♦


Die Haustür knarrte und ich hörte wie jemand den Hausflur betrat. Ich wusste, dass ich aufstehen und nachsehen sollte, wer in meine Privatsphäre eindrang. Die Tränen herunterschlucken und wieder meine Maske aufziehen. Keine Schwäche zeigen, aber mein Körper weigerte den Dienst. Ich spürte, dass ich keine Kraft mehr hatte aufzustehen. Noch immer lähmte der Schmerz meinen Körper.
Ich hörte, wie eine Person meine Küche betrat. Eine Stimme in mir schrie mich an, dass ich die Tränen wegwischen sollte.

„Sawa- Daichi. Ist alles in Ordnung?", hörte ich Koushis Stimme. Ich musste meinen Blick nicht heben, um zu wissen, dass sich Koushis Augenbrauen besorgt zusammenzogen. Seine braunen Augen lagen auf mir und ich wusste, dass sie jede noch so kleine Bewegung wahrnahmen. Unwillkürlich verspannte sich mein Körper und ich biss mir auf die Unterlippe. Verdammt! Koushi war der letzte, der mich so sehen sollte! Was dachte er nur jetzt von mir?

Eine Millisekunde lang schlug mein Herz höher und ich hatte das Gefühl, dass der Schmerz verschwand. Mit Koushi könnte ich diesen Schmerz überstehen.
Die Einsamkeit legte sich wie ein Mantel um mein Herz. Ich konnte ein Schluchzen nicht mehr unterdrücken. Schritte näherte sich und ich spürte Koushis Körper neben mir. So vertraut.

„Daichi", seine Stimme war nur ein liebevolles Flüstern. Vorsichtig legte sich seine Hand auf meine Schultern. Vorsichtig setzte sich Koushi neben mich auf den Küchenboden. Meine innere Stimme wurde lauter, schrie mich an mich endlich zusammenzureißen und Koushi zu sagen, dass alles in Ordnung war. Dass dieser eine Moment nichts zu bedeuten hatte...

„Koushi", meine Stimme war kaum mehr als ein heißeres Keuchen. Sanft strich er mir über den Rücken. Er war die einfühlsamste Person, die ich kannte. Schon immer hatte ich das Gefühl, dass er hinter meine Fassade blicken konnte. Direkt in mein Innerstes. Er wusste immer sofort, wie es mir wirklich geht. So als wäre da ein unsichtbares Band, zwischen uns. Anders konnte ich es mir nicht erklären.

„Es...tut mir so leid." Seine Stimme war voller Mitgefühl. Fast schon so, als hätten die letzten zwölf Jahre nie existiert. Es schien so, als wäre Koushi immer noch mein bester Freund und für mich da. Egal wie schlecht es mir ging.

Ein weiterer Schluchzer drang aus meiner Kehle und die Tränen bahnten sich noch immer unaufhaltsam ihren Weg über meine Wangen. Dabei müsste mein Körper gar keine Flüssigkeit mehr besitzen. Ich weinte schon den ganzen Tag und noch immer war kein Ende in Sicht.

„Sie alle...sie...sind" Ich schluckte einmal. „Sie sind tot...", beendete ich den Satz nach einer Weile.

Noch nie hatte ich es laut ausgesprochen. Ich wusste nicht, warum ich es jetzt zu Koushi sagte. Dabei wollte ich gar nicht mit ihm darüber reden. Aber jetzt, wo ich einmal damit angefangen hatte, schien sich in mir ein Schalter umgelegt zu haben und ich konnte nicht mehr aufhören zu reden.

„Meine Schwester...Meine Ma...sie alle sind nicht mehr da. Eigentlich hätte ich auch in diesem Auto sitzen sollen" Irgendwie hatte es etwas Endgültiges auszusprechen, dass meine Familie nicht mehr lebte, „Aber ein Kollege war krank geworden und ich musste kurzfristig einspringen." Meine Stimme war ganz rau vom ganzen Weinen. Es war schwer das alles auszusprechen, aber es war gleichzeitig ein erleichterndes Gefühl mich jemanden anzuvertrauen.

„Sie waren früh morgens losgefahren und als sie abends wieder nach Hause wollten, ist ihnen ein Betrunkener Autofahrer entgegengekommen. Ihr Auto kam von der Fahrbahn ab, als sie ihm ausweichen wollten, und als die Rettungskräfte eintrafen, konnten sie nur noch Torioo retten." Wieder schluchzte ich.

Koushis Arme schlangen sich um meinen Körper und zogen mich in eine feste Umarmung. Seine Körperwärme umhüllte mich wie eine warme Decke. Der Duft nach Pfefferminze stieg mir in die Nase. Er schien noch immer dasselbe Duschgel wie früher zu verwenden. Meine Tränen fielen auf Koushis Hemd. Meine Hände tasteten nach seinem Körper und krallten sich an ihm fest. Wie ein Ertrinkender an einen Rettungsring.

„Psscht...es tut mir so leid." Beruhigend strich Koushi mir über den Rücken, wiegte mich sanft hin und her und hielt mich fest. Es war nicht viel, aber ich bemerkte wie er den Schmerz linderte. Allein mit seiner Anwesenheit wurde die Last auf meinen Schultern leichter und das klaffende Loch in meinen Herzen schien etwas zu schrumpfen.

Ich wusste nicht, wie lange wir beide so auf den Küchenboden saßen, während Koushi mich einfach festhielt und ich meine Gefühle offen zeigte. Wahrscheinlich vergingen Stunden bis meine Tränen weniger wurden und ich mich langsam beruhigte. Koushi half mir dabei aufzustehen und brachte mich ins Bett. Mit jedem Schritt fühlten sich meine Beine an wie Wackelpudding und hätte Koushi mich nicht gestützt, hätte ich es wahrscheinlich nicht ins Bett geschafft. An diesem Abend war er wieder mein bester Freund, der mir half diese Zeit zu überstehen.

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